Der Sound war düster. Zu verzerrten Gitarren und schleppendem Schlagzeug sangen Bands wie Nirvana und Soundgarden von Entfremdung, vom Alleinsein, von Weltschmerz. Aber mit dem Tod von Nirvana-Frontmann Kurt Cobain, der sich am 5. April 1994 das Leben nahm, schien das Grunge-Genre dem Untergang geweiht. 25 Jahre später stellt sich die Frage: Was ist aus Grunge geworden, diesem nebligen Gemisch aus Hardcore Punk und Heavy Metal, und wer sind heute die Erben Nirvanas?
Fazination Grunge
Es mag zu grossen Teilen Langeweile und Gleichgültigkeit gegenüber der Welt gewesen sein, die immer mehr Jugendliche in den USA um 1990 zum Grunge trieb. Dazu mischten sich Unbehagen und die Angst vor sozialer Ausgrenzung in der Generation X. Nicht selten drehten sich die Songtexte um Drogen, Suizid und Vergewaltigung oder ein verzweifeltes Dasein in einer Welt voller kaputter Familien. Grunge habe aber auch feministische, ironische, zynisch-idealistische und anti-autoritäre Haltungen vereint, urteilte der «Guardian».
Niemand verkörperte diesen «existenziellen Kampf» mehr als Kurt Cobain mit Nirvana, schreibt Steven Felix-Jager in seinem Buch «With God on Our Side». Die Jugend der 1950er-Jahre habe Elvis Presley gehabt, die 60er Bob Dylan und die 70er John Lennon - in den 1990ern sei die Stimme der Generation das «Vorzeigekind» Kurt Cobain gewesen. Die Nirvana-Titel «Lithium», «Smells Like Teen Spirit» und «Come As You Are» liefen in diesen Jahren in Dauerschleife.
Der Junge von Nebenan
Und anders als ein Prince oder ein David Bowie, die zu Gott-ähnlichen Gestalten heranwuchsen, konnte Cobain - zumindest für Amerikaner - wirken wie ein normaler Typ von nebenan. «Alice Cooper und Gene Simmons (von der Band Kiss) und Elton John hätten genauso gut von einem anderen verdammten Planeten stammen können», sagte Musiker Rob Zombie 2016.
Nirvana habe gezeigt, dass Rockstars aussehen können wie gewöhnliche Leute. Mit Jeans, Holzfäller-Hemden und zerzausten Haaren wirkten die Jungs, als seien sie aus irgendeinem Studiokeller oder einer Wohnzimmer-Garage auf die Bühne gestolpert.
Was bliebt vom Grunge übrig?
Heute ist vom Grunge, der im Raum Seattle entstand und von dort in Nachbarstaaten und bis nach Europa gewandert war, wenig übrig. Mit Nirvanas schleichendem Übergang zum Mainstream, Cobains Suizid und dem Aus für Soundgarden, die sich 1997 auflösten, zerfaserte das Genre. Grunge-Bands wie Pearl Jam, Alice in Chains und Temple of the Dog haben ihre besten Tage hinter sich, auch wenn sie (wie auch Soundgarden) teils bis heute auftreten. Schon 2008 schrieb der «Guardian», dass sich Grunge anfühle wie «antike Geschichte».
Stattdessen rückten Bands wie Bush, Creed, Nickelback, 3 Doors Down und die Foo Fighters in den Mittelpunkt. In diesem Post-Grunge ging es auch häufig um persönliches Leid, allerdings mit einer viel Mainstream-tauglicheren und «fast konservativen Weltanschauung entlang des Komforts einer Gemeinde und romantischer Beziehungen», schreibt Kritiker Tim Grierson. Das Kulturmagazin «Westword» ging noch weiter und sprach von «verwässerten Liedchen mit verdünnten Texten, die sich alle um das Leid durch Romantik zu drehen scheinen».
Mit dem Britpop gefeierter Gruppen wie Oasis («Wonderwall»), und Blur («Beetlebum») folgten weitere musikalische Sargnägel. In ihrem jugendlichen Überschwang und dem Wunsch nach Anerkennung sagten die Briten der bisweilen depressiven Grunge-Phase den Kampf an. Zum Nirvana-Titel «I Hate Myself And I Want To Die» (Ich hasse mich und ich will sterben) erklärte Oasis-Sänger Noel Gallagher in einem Interview: «Das mache ich nicht mit.»
Cobain wirkt über sein Genre hinaus nach
Kleinere Grunge-Bands gibt es seit den 2010er-Jahren zunehmend wieder, doch insgesamt erscheint das Genre als tot. Geschenkt hat Cobain der musikalischen Nachwelt aber etwas anderes: Aufrichtige Texte. Unter anderem haben Sängerin Lana Del Rey und die Rockband Weezer ihn als Vorbild für ehrliche und persönliche Texte genannt.
Weezer-Sänger Rivers Cuomo sagte über sein erstes Erlebnis mit Nirvanas Song «Silver» etwa: «Es klang, als käme es aus meinem Innersten - ein Teil, den ich mit meiner eigenen Musik noch nicht annähernd ausdrücken konnte.»
Selbst im Hip-Hop hat der Name Kurt Cobain heute Gewicht. Mitunter haben Rapper Jay-Z, 2Pac und Eminem ihn in ihren Zeilen aufgegriffen. Rapper XXXTentacion, der mit seinem Album «Skins» die Chart-Spitze erklomm und der vergangenen Sommer im Alter von 20 Jahren in Florida erschossen wurde, hatte gesagt: «Der einzige Mensch, der mich inspiriert, ist Kurt Cobain.»
Kurt Cobains letztes Lied
Am 1. März 1994 gaben Nirvana ihr allerletztes Konzert, rund einen Monat später war Frontmann Kurt Cobain tot. Erinnerungen an einen denkwürdigen Abend.
Ausgerechnet bei ihrem allerletzten Konzert fehlte ihr grösster Hit. «Die haben 'Teen Spirit' einfach nicht gespielt», sagt der Münchner Gerhard Emmer. «Das war schon merkwürdig - irgendwie unvollendet.» Emmer war dabei am 1. März 1994. Er wusste damals nicht, dass er Zeuge eines historischen Moments wurde. Der Auftritt im Terminal 1 des ehemaligen Flughafens München-Riem war das allerletzte Nirvana-Konzert überhaupt.
Der Rest der Tour wurde abgesagt, nachdem die Ehefrau von Kurt Cobain, Courtney Love, ihren Mann - vollgepumpt mit Schlafmittel und Alkohol - bewusstlos in einem Hotelzimmer in Rom gefunden hatte. Rund einen Monat später, am 5. April 1994, nahm Cobain sich im Alter von nur 27 Jahren in seinem Haus in Seattle das Leben. Er schoss sich mit einer Schrotflinte in den Kopf.
Bis auf «Smells Like Teen Spirit», die damalige Hymne der wütenden Jugend, der Grundstein für den weltweiten Erfolg der Band, mit dem Cobain aus genau diesem Grund auf Kriegsfuss stand, spielten Nirvana an jenem Tag alle grossen Hits. Das geht aus der Setlist hervor, die der «Rolling Stone» veröffentlichte: «Come As You Are», «All Apologies» und das David-Bowie-Cover «The Man Who Sold The World».
Das letzte Lied, das Cobain jemals bei einem Konzert spielen sollte, war «Heart-Shaped Box» vom Album «In Utero» - geschrieben für Courtney Love.
Überforderung auf der Bühne
Nirvana waren damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Das Terminal 1 in Riem war ausverkauft, es sollte sogar noch ein Zusatzkonzert in München geben. Das wurde aber kurzfristig abgesagt, weil Cobain Probleme mit der Stimme hatte. Auf der offiziellen Nirvana-Homepage der Plattenfirma Universal ist das Münchner Konzert nicht einmal mehr vermerkt. Der letzte Eintrag in der Bandgeschichte ist der 6. Februar 1994: «Nirvana machen sich auf zu einer Europa-Tournee.»
Emmer hat heute noch das Konzert-Ticket von damals. 35 D-Mark zahlte er im Vorverkauf für ein Stück Musikgeschichte - das sich für ihn 1994 noch nicht wie Musikgeschichte anfühlte. «Es war auffällig, dass irgendwie die Luft raus war», sagt der 53-Jährige. «Die haben lustlos ihr Programm runtergespult.»
Erschöpft habe Cobain gewirkt, unkonzentriert. «Er hat sich ein paar mal verspielt.» Man habe, so sagt Emmer, «gemerkt, der ist mit der ganzen Situation, mit dem grossen Ruhm überfordert».
Heute sagt man, der schwer drogenabhängige Cobain sei zerbrochen am Ruhm und am Druck, Idol und Sprachrohr einer ganzen Generation sein zu müssen. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, er wolle seinen Fans nicht länger etwas vorgaukeln, sie nicht abkassieren. Seinen Abschiedsbrief gab es tatsächlich - auf T-Shirts gedruckt - zeitweise zu kaufen.
Cobain ist Teil des «Club 27»
«Er hat sich mit seinem Selbstmord unsterblich gemacht», sagte «Rolling Stone»-Chefredaktor Sebastian Zabel zu Cobains 50. Geburtstag vor zwei Jahren - wie andere Rockstars vor und nach ihm, die ihren 28. Geburtstag nicht mehr erlebten: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison, Amy Winehouse, der «Club 27».
Emmer war damals mit ein paar Freunden am Konzert. «Wir waren alle schon um die 30 und für uns war es sicher nicht das beste Konzert, das wir jemals gesehen haben. Aber für die Teenies damals war das schon cool. Die waren einfach froh, dass sie ihren Gott gesehen haben.»
Noch heute werde er oft auf das Konzert angesprochen, sagt Emmer. Viele seien neidisch, weil er dabei war, als Musikgeschichte geschrieben wurde. Er selbst verstehe das aber gar nicht. «Ich bin neidisch auf meine Kumpels, die 1989 dabei waren im Circus Gammelsdorf. Da war alles noch viel kleiner, da waren Nirvana noch die Vorband. Das muss ein fantastisches Konzert gewesen sein.» (SDA)