«Es ist Zeit, über so viele Dinge zu sprechen», sagt Anja Leuenberger (27). Damit meint sie die sexuellen Übergriffe, die sie erlebt hatte, noch bevor sie 20 Jahre alt war. Am Samstag kündigte sie auf Instagram das Erscheinen ihres Buches an.
Der erste Übergriff geschah in einem Zürcher Nachtclub. «Mit 15 wurde ich zum ersten Mal vergewaltigt», erzählt Leuenberger (27) am Telefon, zurzeit ist sie in New York. Sprechen konnte sie lange Zeit nicht darüber. «Ich habe meine Stimme verloren, mich geschämt und all das tief in mir vergraben.» Erst mit dem Schreiben tauchten die traumatischen Erlebnisse Jahre später wieder an die Oberfläche und damit auch die ganzen verschütteten Emotionen. «Es war eine Achterbahn der Gefühle, Wut, Schmerz und Angst. Das Schreiben von Gedichten hat mir geholfen, das Geschehene zu verarbeiten. Das hat mir meine Kraft wieder zurückgegeben.»
Es war ein Mann aus der Branche – jemand, dem sie vertraute
Die zweite Vergewaltigung ereignete sich, als sie mit 18 Jahren als Model in Los Angeles arbeitete. «Dieses Mal war es jemand aus der Modeindustrie», erzählt Leuenberger. «Es war jemand, dem ich vertraut habe. Er lud mich zum Abendessen ein, daraus wurde dann schnell etwas ganz anderes.» Wie beim ersten Mal wurde sie total überrumpelt und stand derart unter Schock, dass sie wiederum verstummte.
Erst ein paar Jahre später vertraute sie sich ihrem damaligen Freund an: «Es tat gut, mit einem Mann darüber sprechen zu können, der Verständnis für mich hatte.» Schliesslich zog sie auch ihre Schwester und ihre Mutter ins Vertrauen. «Sie hat mich in die Arme genommen, und wir haben beide geweint. Ich habe so viel Verständnis und Liebe von ihr bekommen, dass ich selber nicht begriff, warum ich nicht früher darüber reden konnte.»
Sie will anderen Mut machen, ihre Stimme zu finden
Mit ihrem Buch «The Depths of My Soul» geht sie jetzt an die Öffentlichkeit: «Damit möchte ich anderen jungen Frauen und Männern Mut machen, ihre Stimme zu finden.» Denn nicht nur in der Modeindustrie würden die Machtverhältnisse ausgenutzt: «Leider ist vielen bis heute nicht klar, was Einverständnis bedeutet. Und es ist schockierend, wie oft und laut man Nein sagen muss, damit es respektiert wird.»
Für eine Anzeige ist es für das erfolgreiche Model inzwischen zu spät: «Es sind Jahre vergangen und ich habe es verarbeiten können. Mit dem Schreiben, Meditieren und Verzeihen. Letzteres war nicht leicht, aber nur so kann man wirklich loslassen.» Sie wolle kein Opfer sein und den Tätern keine Energie mehr geben: «Wenn sie dieses Buch lesen, wissen sie, wer gemeint ist, und das genügt mir.» Nur so viel mag sie über die beiden Männer sagen: «Ich war bestimmt nicht die Einzige, der sie das angetan haben.»