Alles ist sehr gediegen im Zürcher Hotel Florhof. Dunkle Wände, dezentes Licht. Umso frischer wirkt Tabea Steiner, wie sie in türkis-roten Turnschuhen mit wippendem Pferdeschwanz den Salon betritt, einen grossen Koffer hinter sich herziehend. Direkt aus München kommt sie, von einer Lesung natürlich. Seit ihrer Nomination für den Schweizer Buchpreis des Buchhändler- und Verlegerverbands ist sie auf Tournee. «Ich geniesse das sehr», sagt die Autorin, die selber Literaturfestivals organisiert.
Später am Tisch erzählt sie bei Kerzenlicht und einer Karaffe Wasser, sie habe schon immer geschrieben. Was heisst immer? «Schon als Kind, Geschichten und Gedichte, die ich dann gut versteckt habe, damit niemand sie lesen konnte.»
Nun ist sie 38 und die deutschsprachige Literaturwelt liest «Balg», ihren ersten Roman. «Sechs Jahre habe ich daran gearbeitet», sagt Steiner, die selbst als Jurorin für die Schweizer Literaturpreise des Bundesamts für Kultur tätig ist. Nun, da sie die andere Seite erlebe, die der Schreibenden, sei ihr «noch bewusster geworden, welche grosse Verantwortung so eine Jury trägt.»
Verantwortung ist auch in Tabea Steiners Erstling das zentrale Thema. Die Antiheldin Antonia zerbricht fast daran, seit Chris in die Stadt zurückgekehrt ist und sie sich im Dorf ihrer Kindheit alleinerziehend durchschlägt. Hier nützt ihr das Studium nichts, sie arbeitet unter ihrem Wert und niemand will den kleinen Timon betreuen.
Nur der einstige Lehrer, der alte Valentin kann es mit dem Wildfang. Doch zu ihm darf Timon nicht. Ein Vorkommnis aus Antonias eigener Jugend, über das man nicht offen spricht, verbietet den Kontakt zu Valentin. So sperrt sie Timon tagelang ein. Als er in die Schule kommt, ist er bereits ein «Problemkind» - und, so das Vorurteil der Gemeinschaft, er wird es auch bleiben.
Tabea Steiner schildert den Mikrokosmos eines mittelländischen Bauerndorfs sehr authentisch und ohne zu werten. Sie ist selbst auf einem Hof im Thurgau aufgewachsen und hat nach der Ausbildung zur Primarlehrerin in Bern Germanistik studiert - zwölf Jahre lang, als Werkstudentin. Für ihre Masterarbeit hat sie sich mit Landschaftslyrik beschäftigt.
Ja, die Landschaft, die Natur, das Draussensein sei ihr wichtig, sagt sie. Punkto Nachhaltigkeit sei die Landwirtschaft in die Pflicht zu nehmen: «Da bin ich klar auf der Seite der Grünen.» Umgekehrt findet sie es inakzeptabel, dass in der Stadt mitten im Winter nach Erdbeeren verlangt werde, als ob Früchte und Gemüse nicht ihre Saison hätten.
Heute lebt Tabea Steiner in Zürich. Doch selbst im Salon des Hotels Florhof drückt das Kind vom Land durch. Vor einem Jahr sei «Balg» am selben Tisch einem strengen - also guten! - Lektorat unterzogen worden, erzählt sie. Und wirft einen Blick aus dem Fenster in den Garten: Auch damals seien die Feigen reif gewesen.
Nun ist die Zeit reif für ein Buch, an dessen Sprache die Autorin geschliffen hat wie eine Lyrikerin. «Timon hört die Hunde von Weitem bellen. Da rennen sie schon auf ihn zu, sie sind riesig, und das Bellen wird immer lauter und schwappt dunkelgrün über Timons Kopf. Er steht auf dem Fahrrad auf und tritt in die Pedale, bis das Bellen wieder leiser ist. Das hat sehr viel Mut aufgebraucht. Aber als Timon wieder langsamer fährt, merkt er, dass noch viel mehr Mut aus ihm heraus will.»
Sie lese oft Lyrik, während sie an einem längeren Text schreibe, sagt Steiner, es schärfe ihre Sinne für Klang und Rhythmus der Sprache. Die Bilder, die sie für das dramatische Geschehen findet, sind trotzdem nicht lyrisch sublimiert. Vielmehr verdichtet sie Timons Verwahrlosung in Szenen, die wie schwere, lehmige Erde an seinen Füssen kleben bleiben. Immer wieder rennt er von zuhause weg und verkriecht sich schliesslich in einem zerfallenden Schweinestall. Seine Mutter Antonia sucht ihn nicht, räumt sein Zimmer und lässt ihren neuen Freund einziehen.
Was bezweckt die feministisch gesinnte Tabea Steiner mit der Figur der klassischen Rabenmutter? «Ich möchte zeigen, wie Frauen in die Armutsfalle tappen und wie die Gesellschaft auf sie blickt», erklärt sie. «Was Männer tun, wird ganz anders bewertet, in ländlichen Gebieten noch stärker als in der Stadt.» Glaubwürdig erzählt sie als Autorin aus verschiedenen Perspektiven, auch aus Antonias: «Das ist mir wichtig», sagt sie, «so versuche ich poetische Gerechtigkeit walten zu lassen.»*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)