Literatur heute
Matriarchinnen in der Literatur: Wie die rote Zora mächtig wurde

In ihrem neuen Roman «Die Marschallin» erzählt Zora del Buono von ihrer Grossmutter. Auch diese hiess Zora; sie hielt ihren Clan unerbittlich zusammen - wie andere Matriachinnen in der Schweizer Literatur.
Publiziert: 16.07.2020 um 10:47 Uhr
In ihrem neuen Roman erzählt die Zürcher Autorin Zora del Buono von ihrer Grossmutter: Diese hiess wie ihre Enkelin, bestand aber auf das grosse "D" im Namen und ist als Kommunistin im süditalienischen Grossbürgertum eine von mehreren Matriarchinnen in der Schweizer Literatur. (Archivbild)
Foto: CHRISTIAN BEUTLER

Ein slowenisches Dorf am Ende des Ersten Weltkriegs. Ein kleiner Junge, der in der Umgebung liegengebliebene Munition sammelt und sich dabei schwer verletzt. Seine ältere Schwester, die ihn zur Ambulanz trägt. Und ein Arzt der italienischen Armee, welcher den Jungen behandelt. Dies ist die Ausgangslage von Zora del Buonos neuem Roman «Die Marschallin» und der Beginn einer Liebe, Ehe und Kampfgemeinschaft.

Die junge Slowenin Zora Ostan folgt dem Arzt Pietro del Buono nach Bari, wo dieser die erste radiologische Klinik südlich von Rom aufbaut. Die Klinik ist Teil eines Hauses, das Zora entwirft und zu einem Dreh- und Angelpunkt der kommunistischen Internationalen macht - keine proletarische Hütte, sondern ein Palast. Hier werden glanzvolle Feste gefeiert und Aktionen gegen Mussolinis Faschisten geplant, hier bittet der jugoslawische Marschall Tito um eine Audienz bei der Hausherrin und lässt sich nebenbei von ihrem Ehemann röntgen und das Leben retten. Hier werden vier Söhne zu kommunistischen Kämpfern erzogen und Dienstmädchen herumgescheucht.

Wie gehen Grossbürgertum und Kommunismus zusammen? Für die Protagonistin Zora Del Buono - sie schrieb sich mit grossem «Del», im Gegensatz zu ihrer Enkelin, der Romanautorin, weil das kleingeschriebene «del» auf Adel hingewiesen hätte, was die Salon-Kommunistin ablehnte - für sie also bestand kein Widerspruch zwischen ihrem Lebensstil und ihrer Gesinnung. Generell duldete sie keinen Widerspruch. «Zora hätte man in die Reihe der Männer stellen können, als ihr Anführer, Dirigent, Marschall, Patriarch: Alles hätte gepasst», denkt ihr Bruder, während er selber sich als Schwuler traditionell weiblichen Werten verpflichtet fühlt. Mit ihm hat Zora kein Problem, doch ihren ältesten Sohn Davide, den sie zu weich findet, will sie aus den Augen haben. Sie schiebt ihn ab in ein Schweizer Internat. Er wurde später der Vater der Autorin.

Auch viele andere Schweizer Autorinnen, zum Teil mit eingewanderten Vorfahren, haben Familiengeschichten mit prägenden Frauenfiguren vorgelegt. Wohl am meisten Parallelen zu Zora del Buono weist Anne Cuneos «Zaïda» auf (2009). Hier mutiert eine Grosstante namens Zaïda Cuneo zur Urgrossmutter der jungen Erzählerin. Diese verfolgt die Spuren der Vorfahrin von London, wohin die Familie aus politischen Gründen geflüchtet war, über Florenz nach Zürich, wo Zaïda mit ihrem Mann, ebenfalls einem Arzt, gegen Mussolinis Regime agitierte.

Ihre eigenen Erfahrungen als Tessiner Lehrerin für italienischsprachige Immigrantenkinder in der Deutschschweiz hat Anna Felder in ihrem vielbeachteten Roman «Quasi Heimweh» verarbeitet (1970, 2019 neu aufgelegt). Angesichts der Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach war die Frage danach, was «Heimat» bedeutet, in der Deutschschweiz der 1960er-Jahre besonders brisant. Felder ortet in der Sprache jene Selbstverständlichkeit, mit der man nur «zuhause» existiert. Deshalb auch ist im Titel des Romans das «Heimweh» mit dem Wörtchen «quasi» relativiert - eine typisch deutschsprachige Wortkombination, die im Italienischen keine präzise Entsprechung hat.

Von der Assimilationsgeschichte einer ukrainischen Jüdin, die getauft wurde, einen neuen Namen bekam und während der Industriealisierung die erste Nudelfabrik im Bauernland Thurgau aufbaute, handelt Johanna Liers jüngster Roman. Erzählerin ist in «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» (2019) wiederum die Enkelin dieser starken Frau, eine Perspektive, die sich offenbar besser zur retrospektiven Ehrerbietung eignet als diejenige der Tochter.

Die Perspektive der Tochter wählt Ariela Sarbacher in ihrem Roman «Der Sommer im Garten meiner Mutter» (2020); es geht um eine Mutter-Tochter-Beziehung, die eine letzte Prüfung zu bestehen hat. Die kranke Mutter, die in den 1930er-Jahren aus Ligurien ins Arbeitermilieu von Zürich verpflanzt wurde, will selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Indem sie der Tochter von ihrem Leben zwischen den beiden Kulturen erzählt, nimmt sie Abschied.

Und Zora? Sie endet enteignet und ohne ihren dementen Ehemann in einem slowenischen Altersheim mit abwaschbaren Wänden. Erst ihr Schlussmonolog weckt beim Lesen so etwas wie Sympathie. Wenn sie an ihre Grossmutter denke, sagte die Autorin in einem Interview, dann falle ihr zuerst deren Geruch ein: «Ein warmer Geruch nach Puder, sehr wohlig.» Gut, hat sie dieser Wohligkeit beim Schreiben widerstanden und ihre Protagonistin nicht verklärt, sondern ein Porträt mit durchaus unangenehmen Ecken und Kanten geschaffen.*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung realisiert.

(SDA)

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