Hannes Binders Atelier mitten in Zürich ist filmreif. Ein Saal, der mit dem Schwung des Jugendstils in eine hohe Decke übergeht, Sprossenfenster bis zum Boden, draussen ein wilder Garten, drüber die Wohnung des Künstlers und seiner Frau. «Sie zeigte mir einst diesen Ort», so Binder, «sie sagte, hier wolle sie wohnen, hier könne ich arbeiten. Und dann hat sie alles dran gesetzt, dass es möglich wurde.» Seit gut 30 Jahren ist der Illustrator nun tätig in diesem Raum, in dem man sich wie aus der Zeit gefallen fühlt. Er hat im In- und Ausland für Zeitschriften gezeichnet - pardon, geschabt, Binder ist ja Meister der Schabkarton-Technik -, hat fünfzig eigene Bücher geschaffen und gut hundert belletristische Werke illustriert, vornehmlich von Schweizer Autoren.
«Da drüben», er zeigt durch die Fensterfront auf ein Nachbarhaus, «da hat Glauser gewohnt". Friedrich Glauser (1896 - 1938), Schöpfer der Wachtmeister-Studer-Krimis, Drogenabhängiger und Psychiatriepatient - ein Freund des Künstlers, der Jahrzehnte später seine Bücher bebildert hat? Fast könnte man meinen, so vertraut spricht Binder über ihn. Er holt eines seiner Bilder hervor, auf dem Glauser durchs Fenster ins Atelier blickt und ihn selbst beim Zeichen der Studer-Krimis beobachtet. Da haben wir sie, die Zeitmaschine.
Sie ist magisch, die Welt von Hannes Binder. Seine «gravierende» Technik, bei der auf weissen Karton eine schwarze Farbschicht gelegt und die Motive daraus herausgeschabt werden, erzielt eine Tiefenwirkung, die aufs Blatt aufgetragenen Zeichnungen fehlt. Ohne Worte liefern Binders Literatur-Illustrationen einen Subtext zum Text. So zeigt das Cover von Gottfried Kellers neu edierter Erzählung «Ursula» (Galiani Verlag) die geistig verwirrte Protagonistin mit umwölktem Blick und einem Baum, der aus ihrer Naselwurzel ins blitzende Gewitter wächst. Ein symbolisch aufgeladenes Bild, vielsagend.
Aber: Braucht Literatur überhaupt Bilder? «Nein», antwortet der Illustrator, ein passionierter Leser. Interessant sei das Bild zum Text nur, wenn es eine neue, zusätzliche Perspektive öffne. Umgekehrt habe er sich ein Gesetz zum Bebildern von Literatur gegeben: «Es muss sich rechtfertigen, der Text muss visuell etwas hergeben".
Die Reformationskriege, vor deren Hintergrund die Liebesgeschichte von Ursula und Hansli spielt, geben kriegerische Szenen her. Die Explosionen über den Köpfen der geharnischten Soldaten haben bei genauem Hinsehen die Form von Ahornblättern. Hier hat Hannes Binder den Glaubenskrieg mit einem persönlichen kombiniert: Beim Haus von Hanslis Widersacher wachsen Ahornbäume. Bei Hanslis eigenem Haus sind es Nussbäume, unter denen die Liebenden heimlich beisammen sind. «In diesem Augenblicke fielen ein paar Nüsse von den Bäumen», heisst es bei Keller. «'Er kommt, er kommt! Fort, fort!' rief sie und eilte so schnell davon, dass Hansli sie kaum einholen konnte.» Viele Seiten später - Ursula sucht ihren Liebsten auf dem Schlachtfeld und muss sich verstecken - zeigt Binder sie in einer offenen Nussschale kauern, die himmelwärts schwebt. Es ist Hansli, bei dem Ursula geborgen sein möchte, während sie dem eigenen Wahnsinn und dem des Krieges verfällt.
Gottfried Kellers Werke werden auch nach dem Jubiläumsjahr 2019 zu seinem 200. Geburtstag ihre Gültigkeit behalten. Und was gute Literatur auszeichnet - ihre Zeitlosigkeit - gilt ebenso für gute Kunst. Dass Hannes Binder als Illustrator immer bei der Schabkartontechnik geblieben ist, einem Verfahren aus dem 19. Jahrhundert, ist in diesem Sinn irrelevant. Seine Bilder sind so aktuell wie die Texte, zu denen sie einen neuen Zugang öffnen - nicht nur, weil der Schabkarton gerade eine Renaissance erlebt. «Ich wüsste nicht, wo ich sonst reinpassen würde», meint der 72-Jährige bescheiden und spielt kurz auf die neuen Bedingungen an, welche die Digitalisierung auch in seinem Fach diktiert.
Immer wieder öffnet er ein schwarzes Notizbüchlein und zitiert Gelesenes, Aufgeschnapptes. «Wussten Sie, dass wir 'Sitzhöcker' haben?» fragt er unvermittelt. Er sei am Morgen im Fitnesscenter gewesen - Rückenprobleme - und habe dort erfahren, dass der Mensch in den Pobacken Knochen habe, die 'Sitzhöcker' hiessen. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, die Freude am Wort, an der Sprache. Und vielleicht auch schon die Ahnung von einem Bild dazu.
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)
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