An diesem heissen Abend im Botanischen Garten Bern hält die Fotografin das perfekte Bild fest: Leicht gekleidete Menschen sitzen in Grüppchen zwischen exotischen Riesengewächsen. Sie lauschen so entspannt wie gebannt der dezent blondierten Frau, die auf einem kleinen Podest aus ihrem Langgedicht «Glück» vorliest. Und schon bald fährt das Unglück wie ein Stachel in die Idylle.
«Ihre Schreie in dieser Nacht / hörte ganz Glück / sie streuten sich und versanken / ohne Hilfe. / Besa verlor ihren Verstand nach dieser Nacht. / Sie gebar zwei Kinder / ihr Mann nahm ihr dann die Kinder weg / arme blöde Besa.» Die Vorleserin schaut auf, wirft schwarz glänzende Blicke in die Runde, fährt fort: «Ich will ihre Geschichte nicht / muss ich sagen / immer wieder wie springender Leopard / galoppiert Leid / von einer Zeit in die andere. / Wenn eine Generation gerade stolz / eine alte Schuld abträgt / ihre Kinder tauchen sich in neue.»
Es ist die Erbsünde, für welche die Frauenfiguren in Dragica Rajčić Holzners Texten büssen. Sie sind die Leidtragenden einer patriarchalischen Gesellschaft, einer religiös verbrämten Doppelmoral und - im Fall von Rajčićs eigener Kindheit im Jugoslawien der 1960er-Jahre - auch der kommunistischen Diktatur zwischen zwei Kriegen. Kriegstraumatisierte Alkoholiker, die ihre Frauen vergewaltigen, ihre Kinder schlagen, mit Schusswaffen drohen, sind in den Geschichten der kroatischen Autorin ebenso allgegenwärtig wie Frauen voller Sehnsucht nach Liebe, die sich nicht wehren, krank werden, irr werden.
So landet auch Ana Jagoda, Heldin im Langgedicht «Glück» sowie im neuen Roman «Liebe um Liebe» irgendwann im «Womanirrhaus» in Chicago. Wie ist sie dorthin gekommen? Mit 17 vom Cousin geschwängert, das Kind heimlich ausgekratzt, verliebte sie sich verzweifelt in Igor mit den zarten Händen. Der nannte sie eine Dichterin, schlug ihr vor, gemeinsam aus dem Dorf Glück wegzugehen, um den Prügeln zu entkommen. «Wir siegen gegen beide Väter», verspricht er Ana, «Leben ist so, nur Sieger gewinnen. Asche fällt neben den Aschenbecher.»
In den USA fallen beide neben den Aschenbecher. Igor trinkt immer mehr, wird rückblickend eifersüchtig, zwingt Ana zum Sex, setzt ihr eines Nachts das Messer an die Kehle. Und sie flieht erneut, diesmal ins Frauenhaus. Nein, sie will die Geschichte ihrer Mutter, ihrer Grossmutter nicht wiederholen. Die Geschichte von Besa, die sich irgendwann erhängte. Schreibend versucht sie eine Sprache zu finden für das Unsagbare, um frei zu werden.
Erzählt Dragica Rajčić Holzner in «Liebe um Liebe» von sich selbst? «In dem Moment, in dem man zu schreiben beginnt, beginnt man zu lügen», erklärte sie an jener Lesung in Bern und schenkte dem Publikum ein mütterlich-nachsichtiges Lächeln. Wie fast alle Autorinnen lehnt sie die Aufspaltung des literarischen Textes in Realität und Fiktion ab. Die Frage nach dem, was wirklich war, ist angesichts der Dringlichkeit ihrer Sprache auch überflüssig. Es ist eine Fremdsprache, in der sie seit über 40 Jahren schreibt, gespickt mit Splittern ihrer Muttersprache, die in Scherben liegt.
Während im Gedichtband «Buch von Glück» (2004) das Spiel mit Deutschfehlern noch ein Hauptmerkmal war, sind im Langgedicht «Glück», das letzten Herbst erschien, nur noch wenige davon auszumachen. Was von der Lyrik der Immigrantin blieb, sind Wortschöpfungen wie «Eigenschreck» oder «Vormorden» sowie das Fehlen von Artikeln. Im Roman nun, der dieselbe Geschichte erzählt wie das Langgedicht - teils wörtlich, teils ausgebaut- , hat Rajčić sich an den Duden gehalten. «Es ist jetzt alles so, wie Deutschlehrer sich das wünschen», kommentiert sie spöttelnd und verweist auf all die «Tüpflischiisser», die ihr hartnäckig beibringen wollten, dass man nicht Gluck schreibt, sondern Glück, bitte mit zwei Pünktchen. Dabei fehlt dem Glück im Dorf Glück doch immer das Wesentliche.
Hat die Autorin, unter anderem mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, klein beigegeben und ihre Kunstsprache gegen eine mainstream- und markttaugliche eingetauscht? Keineswegs. Verblüfft stellt man beim Quervergleich der Texte fest, dass das Eigene ihrer Sprache nicht im grammatischen und orthografischen Eigensinn einer Fremdsprachigen liegt, sondern in ihren Bildern. Geprägt von der Drastik und Melancholie ihrer Kultur findet sie zum Beispiel für die Angst des Kindes vor Schlägen ein präzises häusliches Bild: «Vater zeigte den goldenen Zahn beim Reden und einen silbrigen beim Fluchen, welcher ganz weit hinten im Mund lag. In ihm kochte eine Zornmilchsuppe, die jederzeit überschwappen konnte wie Milch.» Andere Bilder schöpft Dragica Rajčić Holzner aus Träumen. In ihnen wird der Albtraum des Lebens gefasst und verwandelt.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.
(SDA)