Im Nachwort zu «Jeder Krüppel ein Superheld» erinnert sich Christoph Keller an die kraftraubende Arbeit an «Der beste Tänzer». Für die Leser ist das Buch ein grosses, berührendes Lektüreerlebnis. Sein Autor aber verbindet mit ihm ein seither gewachsenes Misstrauen. «Wie wahr kann eine Erinnerung sein», wenn sie als Roman daherkommt, fragt er sich. Im neuen Buch sucht er darauf eine «hybride, freche» Antwort.
Christoph Keller leidet an einer Muskelkrankheit, die Spinale Muskelatrophie (SMA) heisst und bewirkt, dass er zusehends die Kontrolle über seine Muskelkraft verliert. Er diagnostiziert es selbst als eine «Sprachstörung», die auf einer Kommunikationspanne zwischen Gehirn und Körper beruht.
Wie peinlich für einen Autor, merkt er an. Doch die «Störung» ist zugleich eine Quelle für ihn als Autor wie als Mensch, wie er schreibt: «Meine Superkraft sind meine Muskeln. Je schwächer sie werden, desto stärker werde ich.»
Was sich leicht liest, ist das Resultat einer Super-Anstrengung. Davon handeln diese «Splitter aus einem Leben in der Exklusion» - eine Form einer Collage von Erzählungen, Notaten, Gedichten und Zitaten.
Äusserlich präsentiert sich das Buch reisserisch mit dem Titel in einer roten «explodierenden» Sprechblase. Christoph Keller hegt, wie er im Gespräch mit Keystone-SDA sagt, damit durchaus provokative Absichten. Die politische Unkorrektheit ist seine «Gegenstrategie», um das sensible K-Wort «als ein Kompliment» für sich selbst wiederzugewinnen.
Menschen mit Behinderung sind keine Opfer, sie stehen in der Tradition der mythischen Helden von Ödipus bis Superman. Um ihren Alltag zu bewältigen, müssen sie über «Superkräfte» verfügen, zu denen nebst Kraft auch Scharfsinn und Geduld, Humor und Ehrlichkeit zählen. Letzteres ist die vielleicht wichtigste Superkraft. Die eigene Behinderung anzuerkennen, macht stark.
Es geht Christoph Keller nicht um Klage, sondern darum, das Thema der Behinderung im gesellschaftlichen Diskurs sichtbar zu machen. «Wir sprechen viel zu wenig davon», betont er. Nur wer wisse, wie schwierig es ist, eine Stadt zu «berollen», kennt die «massive strukturelle Diskriminierung», die Behinderte täglich erleben.
Dabei sei es oft gar nicht böse Absicht, sondern fehlende Sensibilität. «Es wird einfach nicht daran gedacht», was Barrierefreiheit bedeutet. «Wirkliche Integration heisst mitgedacht zu sein.» Genau daran aber mangelt es. Nur so ist zu erklären, dass selbst neueste Gebäude auf ein behindertengerechtes «universal design» verzichten.
Dabei könne es uns alle treffen, bemerkt er, und fragt: «Warum passen wir bloss nicht stärker auf uns alle auf?» Weil es uns zu nahe gehe? Oder weil es zu teuer sei?
Mit seinem Buch will Christoph Keller an unseren Gemeinschaftssinn appellieren. Seine «Autorität» als Schriftsteller hilft dabei. Zwar will er nicht als Sprachrohr agieren, doch «es spricht sonst niemand für uns».
Literarisch gewieft bringt er das heikle Thema schonungslos direkt, zugleich mit Witz zur Sprache. Er beschreibt anschaulich, wie er selbst mit seiner Krankheit einen Frieden fand. Wie er als Kind die ersten Anzeichen der Behinderung erfuhr, später zum Stock greifen musste, schliesslich auf den Rollstuhl angewiesen war.
«Mein Schreiben hat nichts mit SMA zu tun», sagt Keller. Aber als Autor kann er der Diskriminierung literarische Intensität verleihen. Zu den stärksten Passagen in seinem Buch gehören die intimen Szenen, in denen er detailscharf beschreibt, was es heisst, am Morgen aufzustehen, auf die Toilette zu gehen oder in ein Flugzeug zu steigen.
«Jeder Krüppel ein Superheld» ist in dieser Form ein gesellschaftspolitischer Appell und zugleich ein literarisches Experiment. Darauf legt Christoph Keller besonderen Wert. Es finden sich darin auch Gedichte oder eine längere «Wanzengeschichte», die ebenso raffiniert wie wunderbar Kafkas «Verwandlung» abwandelt. Hinzu kommt eine Fotoserie, die New Yorker «Strassenbarrieren» zeigt.
Diese Texte sind im Wesentlichen in New York entstanden, wo Keller bis vor Kurzem zusammen mit seiner Frau teilweise gelebt hat. Das Buch beschreibt somit amerikanische Zustände. Doch Achtung. Bezüglich Behindertengerechtigkeit liegt die Schweiz zurück, betont Keller.
Im Unterschied zu den USA fehlt es hier an rechtlichen Druckmitteln. Behinderte sind bei uns nicht Rechtspersonen, sondern «Bittsteller», die gerne als verbittert hingestellt würden. Umso mehr freut sich Christoph Keller darüber, dass sein Buch bereits vorab auf grosse Resonanz gestossen ist. Vielleicht ändert sich ja etwas, und ein literarisches Buch hätte dazu beigetragen.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt- Stiftung realisiert.
(SDA)