Das macht er gut. Wohl deswegen hat die Jury für den Deutschen Buchpreis «Der Halbbart» von Charles Lewinsky bereits vor dessen heutigem Erscheinen als eines der zwanzig besten Bücher des Jahres auf die Longlist für den Preis gesetzt.
Der Geschichtenerzähler Lewinsky erweckt in seinem neuen Roman den Geschichtenerzähler Eusebius zu literarischem Leben: einen Jungen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, einen «Finöggel», «Stündelerzwerg» oder einfach «Sebi», wie er in seinem Dorf in der Nähe von Schwyz genannt wird. Von sich selbst sagt Sebi, er «sei wohl nicht zum Arbeiten geboren, sondern zum Geschichtenerfinden».
Dieser Sebi ist ein einfacher Junge von teils herzerfrischender Naivität, lesen und schreiben kann er nicht. Aber er erzählt den ganzen Roman von Anfang bis Ende: erfundene Geschichten oder was er erlebt, und er kommentiert die Vorgänge aus seiner eingeschränkten Sicht. Doch er hat einen Freund, der ihm die Welt erklärt, und eine Lehrmeisterin, die ihn das Geschichtenerzählen lehrt.
Sebis Erzählungen setzen ein im Jahr 1313: Schwyzer fechten mit dem Kloster Einsiedeln den sogenannten Marchenstreit aus, sie überfallen das Kloster, das unter dem Schutz der Habsburger steht; Söldner kehren aus Kriegen in Italien zurück und tyrannisieren die Menschen; ein Schmied erfindet die Hellebarde - und schliesslich kommt es zur Schlacht am Morgarten.
Vieles, was Sebi erzählt, versteht er nur teilweise oder gar nicht. So beispielsweise, wer sein Freund wirklich ist: Halbbart nennen ihn die Leute im Dorf, «weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen.» Er taucht bereits auf den ersten Zeilen des Romans auf, «von einem Tag auf den anderen war er einfach da», ein Flüchtling, «seinen richtigen Namen kennt keiner». Und: Er, nicht der Erzähler Sebi ist derjenige, der dem Roman seinen Titel gibt. «Wenn ich das Buch 'Eusebius' genannt hätte, wäre das viel weniger reizvoll gewesen», sagt der Autor Charles Lewinsky gegenüber Keystone-SDA.
Das sind die offensichtlichen Eckpunkte des Romans «Der Halbbart». Oberflächlich betrachtet, nimmt Sebi die Leserin mit in eine längst vergangene Zeit, als die Menschen unzimperlich mit sich und anderen umgegangen sind - es fliesst viel Blut -, als die weltliche und kirchliche Obrigkeit ihre Macht gnadenlos ausspielte, als die Menschen mit Aberglauben und Geschichten über den Teufel in Unwissenheit verharrten. Der Erzähler Sebi wirkt hier streckenweise eigentümlich modern, so dass offen bleibt, wie authentisch diese historischen Gegebenheiten sind.
Aber das ist nicht das eigentliche Thema des Romans. Auffällig ist vielmehr, wie Sebi, Halbbart und die Lehrmeisterin andauernd über das Erzählen von Geschichten nachdenken, über die Macht von Geschichten und die Art, wie Geschichten zustande kommen. «Es geht im Buch um die Rolle des Erzählens bei der Erschaffung der Wirklichkeit», sagt Charles Lewinsky.
Und Sebi zitiert Halbbart, der gesagt habe, «wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten, dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert hätte». Es geht also darum, dass Geschichten und nicht Fakten Realität erschaffen.
Welche grausamen Realitäten daraus entstehen, exerziert Lewinsky am geschundenen Halbbart durch: Der Leserin erschliesst sich bereits auf den ersten Seiten, dass Halbbart Jude ist. Er ist geflüchtet aus dem habsburgischen Korneuburg an der Donau. Der dortige Vikar Friedbert hatte dem Juden vorgeworfen, eine Hostie geschändet zu haben: «[...] eine blutende Hostie. Auf der Schwelle vom Halbbart seinem Haus», gibt Sebi wieder. Die Einwohner des Orts waren allzu schnell bereit, die Geschichte des Vikars zu glauben und schichteten den Scheiterhaufen auf. Halbbart entkam knapp. «Die Geschichte von der geschändeten Hostie, die zu einem Progrom führt, ist nur ein - damals leider häufiges - weiteres Beispiel dafür, wie man durch eine Erzählung eine scheinbare Wirklichkeit erschaffen kann», sagt Lewinsky und verweist darauf, dass der Vorfall historisch sei.
Auffällig ist, dass Halbbarts Geschichte von Sebi und damit einem Erzähler wiedergegeben wird, der überhaupt nicht versteht, was wirklich vorgefallen ist. Diese Episode ist eine unter vielen im Roman, die deutlich machen, wie unzuverlässig Erzählungen sein können. «Eine Geschichte über die Unzuverlässigkeit des Erzählens braucht auch einen unzuverlässigen Erzähler», kommentiert Lewinsky - einen Erzähler also, dem im höchsten Grad zu misstrauen ist.
Und so bleibt auch offen, ob Sebi seine Lehrmeisterin verstanden hat, als sie ihm über zweifelhafte Geschichten mit auf den Weg gab: «Das Schlimme daran sei nicht, dass manche Leute darauf hereinfielen, [...] sondern dass solche Geschichten ein eigenes Leben bekämen [...] und irgendwann seien sie dann von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden.» - im Übrigen ein Gedanke, der im Zusammenhang mit der heutigen Diskussion über Fake-News von brisanter Aktualität ist.
Vor dem Hintergrund der Aussage der Lehrmeisterin leistet sich der Autor Lewinsky für seinen Roman eine Pointe, mit der «Der Halbbart» nicht nur ein historischer Roman ist, sondern zudem für die heutige moderne Schweiz eine Lektion parat hat. Nur so viel sei verraten: Schöne Geschichten über die Schlacht am Morgarten wurden über Jahrhunderte erzählt - und irgendwann sind sie wahr geworden.*
*Dieser Text von Andrea Fiedler, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)