«Niculina trieb jeden Morgen die Geissen hoch auf die Foppa da trais, eine kleine Senke mit gutem Gras und einem Bächlein. Vom Maiensäss ihrer Eltern schlängelte sich ein Pfad empor, aber Niculina trieb die Herde steil den Hang hinauf und rannte und kletterte mit den Geissen um die Wette und hetzte sie, als wäre sie ein Wolf. Sie knurrte und rief: 'Rennt, oder ich fresse euch.'»
So beginnt die Geschichte, die Tim Krohn aus einer Vielzahl von Sagen des Engadins und des Münstertals, wo er seit fünf Jahren lebt, herausdestilliert hat. Was für eine Beziehung hat der Autor zu Tieren, Pflanzen und Gewässern, die er in dieser neuen Alpensage so einfach wie eindringlich beschreibt?
«Zu den Tieren stehen wir hier in unmittelbarer Beziehung», sagt er, und mit «wir» meint er die Grossfamilie, die auf einem 400-jährigen Gehöft in Santa Maria Val Müstair lebt: seine Frau und er, ihre drei, bald vier Kinder, die Mutter, die Schwiegereltern und die Schwalben, die in den alten Gemäuern nisten. Ihm seien Tiere sehr nah, so Krohn, weil er sich selbst, überhaupt den Menschen, auch als Tier verstehe: «Schon immer hat mich die Grenze interessiert, an der wir Menschen aufhören, kulturelle Wesen zu sein und eben Tiere werden. Und umgekehrt sind ja auch Tiere kulturelle Wesen.»
In Tim Krohns Sage «Der See der Seelen» wird Niculina tatsächlich zur Wölfin, während sie das Wasser des Lebens sucht, um ihre kranke Grossmutter, die Nona, vor dem Tod zu bewahren. Umgekehrt verwandelt sich das Wolfsweibchen, dessen Ruf Niculina nachts in die «Innerwelt» folgt, in ein Mädchen, das ihre Freundin sein will. Nur hat Niculina schon eine Freundin: Ladina, eine junge Geissenhirtin wie sie. Ladina träumt davon, später einen Bauernhof zu übernehmen - mit Niculina natürlich.
Und dann gibt es noch den Dritten im Bunde, Peider. Um die Mädchen zu beeindrucken, gibt er an mit dem Giki-Gäki, einem Wildmanndli, das ihm zu Diensten sei. Ladina steigt darauf ein und flirtet mit Peider; Niculina sucht das Weite. Eine Dreiecksgeschichte?
Seine Protagonistin sei zuerst ein Junge gewesen, erzählt Tim Krohn. Doch er wollte keine klassische Liebesgeschichte schreiben, und als das Jugendtheater Tabula Rasa sich beim ihm meldete, um den «See der Seelen» auf die Bühne zu bringen, war der Fall klar: Die beiden Theaterfrauen würden zwei weibliche Figuren spielen. So wurde aus Niculin im Text Niculina, die als starkes Mädchen überzeugt, wobei ihr fluides Geschlecht unterschwellig spürbar bleibt.
Alles fliesst im Leben und in Tim Krohns Sage. So stellt er den Tod als Eingang ins paradiesische Nichts dar, in dem der See liegt, der die Körper von Krankheit befreit und die Seelen von Schmerz. Niculina sieht, wie ihre Nona gebrechlich in diesen See eintaucht, aber schon bald wie ein junges Mädchen mit kräftigen Zügen das Wasser teilt, lächelt, ihr zuwinkt und schliesslich «als hübsch gelocktes Dampfwölkchen» aufsteigt und verschwindet.
«Wasser ist wohl das verführerischste Element», sagt Tim Krohn, der die Sage auch für seine Kinder schrieb, deren Grossmutter zusehends schwächer wird. «Aus dem Wasser kommt alles Leben, gleichzeitig kann es alles zerstören.» Die Gewitter in seiner bündnerischen Wahlheimat seien gewaltig, sie brächten nicht nur Wasser, sondern auch Felsbrocken bis quasi vor die Haustür, die Ställe würden überschwemmt, das Wetter sei unwägbarer geworden, man müsse stets auf der Hut sein.
Früher, als er noch in Zürich lebte, kannte Krohn nur das Wasser in den Hallenbädern, wo er Kilometer um Kilometer schwamm, bis er das Chlor nicht mehr vertrug. Die gefährdete Gesundheit des Allergikers war mit ein Grund, in die Höhe zu ziehen. Nun ist Tim Krohn mit allen Wildwassern gewaschen, wässert einen Obst-, einen Gemüsegarten und einen Kartoffelacker.
Auch Bäume pflanzt die Familie Krohn. «Das Tal soll erblühen», sagt der gärtnernde Schriftsteller, und seine Stimme nimmt einen fast zärtlichen Klang an. Am Rand des Nationalparks gelegen, ist sein Wohn- und Schaffensort von Wald umgeben und das Haus, in dem er lebt, ist in gewissem Sinne ein Baumhaus. «Ich hätte mir früher nie vorstellen können, in einem Chalet zu wohnen», erinnert er sich, «das war für mich der Inbegriff der Enge. Doch jetzt, in diesem uralten Holzhaus, spüre ich noch immer das Leben der Bäume, aus dem es gemacht ist.»
Natur und Kultur, zwei Pole, die das aktuelle Leben Tim Krohns prägen. Wo befindet er selbst sich als Schriftsteller? Ist er die Hexe, die Hagreiterin auf der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation? Es ist still im Haus, nur aus der Küche dringen entfernte Geräusche, bald gibt es Mittagessen. Tim Krohn überlegt, dann erzählt er, dass ihm zweimal von Sterbenden berichtet wurde, die im Spital nach seinen Büchern verlangt hätten - Literatur als Sterbebegleiterin. In diesem Sinne bezieht auch «Der See der Seelen» den Tod als natürlichen Teil des prallen Lebens mit ein.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)