Literatur heute
Al Shahmanis Flucht in die Natur: die zweite nach der aus dem Irak

In seinem mehrfach ausgezeichneten autobiografischen Roman "In der Fremde sprechen die Bäume arabisch" erzählt der gebürtige Iraker Usama Al Shahmani, wie er als Asylsuchender in der Schweiz das Wandern entdeckte und die Natur zu seinem wichtigsten Trostspender wurde.
Publiziert: 03.09.2019 um 13:56 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2019 um 13:58 Uhr

«Die Flucht in die Natur war für mich die zweite nach der Flucht aus dem Irak», sagt er über die langen Jahre der Ungewissheit, die er in der Schweiz durchlitt, nachdem sein Bruder Ali im Irak 2006 spurlos verschwunden war - so wie unzählige andere junge Menschen in Bagdad. Wurde er gefoltert? Liegt seine Leiche in einem anonymen Massengrab?

Auf langen Spaziergängen im schützenden Wald lässt der verzweifelte Al Shahmani seinen Sorgen freien Lauf. Birken, Fichten und Eichen hören zu und verhelfen im zu Zuversicht. Während seine Familie weit weg in überfüllten Leichenhäusern nach seinem jüngeren Bruder sucht, versucht er in einer fremden Welt Fuss zu fassen.

In der Schweiz, das stellt der Literat immer wieder fest, ticken die Leute ganz anders als im Irak. Was ihn in seinen ersten Wochen sehr verwundert, ist die sommerliche Unternehmungslust der Schweizer: Kaum scheint die Sonne, machen sie sich mit Wasserflaschen und Sonnencrème im Rucksack auf an den See oder in die Berge.

«Ich konnte überhaupt nicht verstehen, was die Leute antrieb», erzählt Al Shahmani, während er sich auf eine Bank im Zürcher Platzspitzpark setzt; er kommt gerade von einem Referat vor Pädagogik-Studierenden. «Im Irak geht man im Sommer wenn möglich erst abends aus dem Haus, davor ist es mit bis zu 50 Grad schlicht zu heiss. Viel beliebter als die Sonne ist der Regen, der als Quell des Lebens und der Freude gilt.»

Menschen begegnen der Natur auf ganz unterschiedliche Weise. Für Al Shahmani liegen die Ursachen dafür nicht nur in den klimatischen Bedingungen, sondern vor allem in der Geschichte, die eine Gesellschaft formt. «In die Natur zu gehen und sie um ihrer selbst willen zu betrachten, ist eine Entspannungs-Strategie, die sich über lange Zeit entwickelt hat», sagt er. «Wandern setzt ausserdem das Konzept der Freizeit voraus.»

Im Irak käme niemand auf die Idee, in die Berge zu laufen; das Wort «wandern» existiert nicht einmal. Die wilde Natur wird als gefährliches Chaos wahrgenommen, das im Gegensatz zum zivilisierten Leben der Menschen steht. Wenn man sich ihr aussetzt, begibt man sich in Gefahr.

Diese muss nicht immer zwingend von der Natur selbst ausgehen, wie Al Shahmani an einem Beispiel illustriert: «In Bagdad wollte ich einmal den Sonnenaufgang über dem Tigris betrachten. Während ich frühmorgens auf einer Brücke auf die Sonne wartete, kamen Polizisten und begannen mich zu verhören. Dass ich ein Naturspektakel geniessen wollte, war für sie keine plausible Antwort.»

Die Szene am Tigris spielte sich in einer Zeit ab, als der Diktator Saddam Hussein noch fest im Sattel sass. Als Al Shahmani acht Jahre später, 2002, ein Theaterstück verfasste, das wegen seiner Regimekritik verboten wurde, musste er über Nacht das Land verlassen.

In der Schweiz lebte der Literaturwissenschaftler und Autor während vier Jahren in Asylzentren, fand schliesslich in einer Mensa Arbeit, brachte sich selbst deutsch bei und bildete sich zum Dolmetscher aus. Er heiratete und gründete eine Familie in Frauenfeld. Mit seinem ersten deutschsprachigen Roman konnte er sich 2018 seinen grossen Wunsch erfüllen, endlich wieder selbst als Schriftsteller tätig zu sein.

Heute wandert Al Shahmani nicht nur auf Berge, sondern auch permanent auf dem Grat zwischen zwei Kulturen. Die alte Eiche im Thurgauer Sommeriwald, die ihm in diesem Roman Halt gibt, besucht er noch immer regelmässig und spricht zu ihr, leise denkend, oder mit lauter Stimme. «Der Wald hat eine heilsame Wirkung. Zwischen den Bäumen, ihren tiefen Wurzeln und ihrem Rauschen fühle ich mich als Teil der Welt und der Zeit, und bin mir selbst nahe.»

Was passiert, wenn Al Shahmani mit einem Baum spricht? «Ganz einfach: Ich spreche und der Baum hört zu», sagt er und fügt an: «Wenn wir etwas erzählen, sehen wir unsere Geschichte vor uns und können uns selbst besser verstehen: Wo stehe ich? Was hat mich verändert?» So beschreibt er es auch in seinem Buch: «Der Eichenbaum war für mich wie ein riesiger Spiegel, in dem ich mich klar sehen konnte.»

Die Verbindung von Baum und Mensch geht in der arabischen Kultur oft über ein Nutz-Verhältnis hinaus. Jede Baum-Art hat ihre Bedeutungen und wird von vielen Sprichwörtern aufgeladen. Dattel-, Nuss- oder Sidarbäume im privaten Gärten sind nicht nur ein Zeichen des Wohlstands, sondern auch Zeugen der Familiengeschichte und somit ein Teil der eigenen Seele. «Wenn wir mit unseren Bäumen sprechen, gehen wir davon aus, dass sie die Wörter aufnehmen und von uns beeinflusst werden.»

In diesem Zusammenhang erinnert sich Al Shahmani an seine Kindheit: «Wenn ich als Kind krank war, nahm meine Grossmutter ein Glas Wasser, flüsterte ihm etwas zu und gab es mir dann zu trinken. Ich weiss nicht, was sie dem Wasser gesagt hat und ob es gewirkt hat, aber es tat gut.» Die Sprache und die Natur, beides sind für den Schriftsteller Geheimnisse, die das Leben ausmachen.*

*Dieser Text von Martina Kammermann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

(SDA)

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