Es ging schneller als gedacht. Fünf Tage vor der Eröffnung hat Miriam Cahn ihre eigene Ausstellung «Ich als Mensch» schon fast fertig eingerichtet. Cahn hat die Räume des Berner Kunstmuseums entrümpelt, hat Stellwände entfernen lassen und den Blick durch die Fenster frei gemacht.
Jetzt wandern die Augen über Cahns Bilder, nach draussen und wieder zurück. Diese Bewegung will Cahn provozieren, «ein- und wieder auftauchen", nennt sie es. So soll das Publikum ihre Werke erleben, so arbeitet sie selbst.
Als es der Rücken noch zuliess, zeichnete Cahn, am Boden kauernd, auf grosse Blätter, völlig versunken in dem Bild, von dem sie nicht wusste, wie es als ganzes aussehen würde. Auf den Kohlezeichnungen einer Stadt aus der Luft - es ist die Perspektive eines Bombers - sind noch Cahns Fussabdrücke zu sehen. Als wäre da jemand durch die Luft gegangen.
Wer also mit den Augen in diese Bilder eintaucht, wird auf gleicher Höhe auf andere Augen treffen, die zurückschauen. Cahn hat alle Bilder so gehängt, dass ihre Figuren, und davon gibt es viele, dem Publikum ins Gesicht schauen können. Diese «Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit» sei essentiell für sie, sagt Cahn.
Das gilt auch für ihre Bilder: Riesige Aquarelle hängen neben kleinen Digitaldrucken, edle Leinwände neben rissigem Papier. 150 Werke aus verschiedenen Schaffensphasen, ob Skizze, Video, Skulptur oder Gemälde, alle von gleichem Wert.
Augenhöhe, darum geht es. Im ersten Raum der Ausstellung, Cahn nennt ihn den Sex-Raum, ist, neben offenen Mündern, Vulven und erigierten Penissen in Aktion «L'origine du monde schaut zurück» (2017/18) zu sehen, eine Neuinterpretation des berühmten Gemäldes von Gustave Courbet.
Bei Cahn hat die Nackte, von der Courbet nur das Geschlecht malte, ein Gesicht. «Der Ursprung der Welt schaut zurück", sagt Cahn, das Gesicht jedoch ist verhüllt. Courbet hatte sein Gemälde für einen türkischen Auftraggeber gemalt, er und die Nachbesitzer, unter anderem der Psychoanalytiker Jacques Lacan, verbargen es aber mit aufwändigen, doppelbödigen Rahmenkonstruktionen vor den Blicke der Welt.
Miriam Cahns Schaffen ist deutlich geprägt von den Überzeugungen der Friedens- und Frauenbewegung. Die Künstlerin vermittelt in ihren drastischen Bildern diese Haltung als menschliche Selbstverständlichkeit. Mit Bezug auf die Künstlerin Barbara Kruger rückt sie das «Schlachtfeld Körper» in den Blick. Friedlich ist das nicht, der Zorn treibt Cahn an, Aggression ist der Motor.
Ihre Kunst besteht darin, das Destruktive trotzdem nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Versinkende Körper im Mittelmeer, die Pracht von Atombombenexplosionen: Schönheit und Gewalt, Lust und Zerstörung stehen bei Cahn nebeneinander, sie bilden ein Paradox, jedoch keinen Widerspruch.
Gespeist wird Cahns Furor, der übrigens mit einer durchaus gewinnenden Freundlichkeit einher geht, durch eine nicht ganz einfache Biographie. Aus einer angesehen Professorenfamilie stammend, war Cahn in ihrem nächsten Umfeld mit Depression, Drogensucht und Suizid konfrontiert.
Sie reagierte mit Abgrenzung und Flucht in die Kunst. Nach dem Studium an der Grafikklasse der Gewerbeschule Basel war die 1949 in Basel geborene Cahn in den 1970er Jahren zunächst als Zeichenlehrerin und wissenschaftliche Zeichnerin tätig, bevor sie sich ganz der Kunst zuwandte. Heute lebt und arbeitet sie in einem neugebauten Atelierhaus im Bergell.
Cahn nahm 2017 zum ersten Mal an der documenta in Kassel teil, nachdem sie bereits 1982 eingeladen gewesen wäre, ihre Bilder wegen eines Streits mit dem Kurator Rudi Fuchs jedoch zurückzogen hatte.
Das sagt viel über die Eigenständigkeit einer Künstlerin aus, ähnlich wie die Episode von 1980, als sie an Weihnachten verhaftet wurde, weil sie aus Protest gegen den Bau der Basler Nordtangente Kohlezeichnungen an dem Bauwerk anbrachte, was ihr eine Verurteilung einbrachte. Jahrzehnte später baten die Behörden Cahn, die Zeichnungen als Kunst am Bau zu wiederholen, was sie allerdings nicht tat.
Zurzeit erlebt Cahn einen Höhenflug. Die Berner Ausstellung wird auch im Haus der Kunst München und im Museum für Moderne Kunst in Warschau gezeigt. Parallel dazu ist in Bregenz und Madrid eine Schau der Künstlerin zu sehen. 2005 erhielt Cahn den Prix Meret Oppenheim, 2013 als erste Ausgezeichnete überhaupt den Basler Kunstpreis.
So verdient diese Anerkennung ist, sie spiegelt auch die Sehnsucht der Kunstwelt nach einer als authentisch verstandenen politischen Kunst, an deren Möglichkeit heute oft gezweifelt wird, weil sie angeblich allein den Gesetzen des Marktes folgt.
Cahn wirkt in diesem Umfeld glaubwürdig, zumal sie ihr Schaffen pointiert schreibend reflektiert. Zu der Ausstellungen in Bern erscheinen neben dem Katalog auch ihre gesammelten Schriften, in denen Cahns Wille zur Selbstbestimmung auf Augenhöhe zum Ausdruck kommt, im Werk, in der Ausstellung und als ethischer Anspruch.
Verfasser: Martin Bieri, ch-intercultur