Auf einem Stuhl in der früheren Tenne eines Bauernhauses sitzend sagt Gertsch, er habe mit der realistischen Farbigkeit gebrochen. Dabei weist er auf zwei Bilder, welche an den Wänden hängen. Eines ist weitgehend fertig und rot-blau. Beim anderen fehlen noch grössere Flächen. Es ist lapislazuliblau und weiss.
Die Bilder zeigen ein Motiv, das Gertsch schon für seine «Gräser"-Bilder früherer Jahre verwendete: Gräser eben - fotografiert unweit von Gertschs Haus an einem Waldrand im bernischen Rüschegg. Mit dem Unterschied, dass die drei neuen Bilder - ein drittes hängt in einem anderem Raum - nicht mehr die reellen Farben der Natur zeigen, sondern «frei erfundene», wie Gertsch sagt.
Den Bruch mit der Fotorealität erklärt Gertsch, er male schon seit einiger Zeit Bilder, die er zuvor erträumt habe. «Mit einer Art Tagträumerei versuche ich, eine Vision des nächsten Bilds zu erhalten".
Nun hat Gertsch eben die Eingebung gehabt, «freie Farbmalerei» zu machen. Wenn er schliesslich an die Arbeit geht, ist das Bild im Kopf sozusagen gemalt. Fürs Malen wendet er heute nicht mehr so viel Zeit auf wie früher. Er sei aber sehr konzentriert am Werk, sagt Gertsch.
Die neuste Entwicklung Gertschs reiht sich ein in frühere Erneuerungen in seinem Werk. Der 1930 in Mörigen am Bielersee geborene Maler machte sich nach seiner Ausbildung in Bern zuerst einen Namen mit Holzschnitten, wie dem Lexikoneintrag des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft zu entnehmen ist.
Mitte der 60er Jahre entstehen auf Fotovorlagen basierende Collagen aus eingefärbtem Papier, 1969 malt Gertsch das erste grossformatige fotorealistische Bild. Es beruht auf der Projektion eines Kleinbilddias. Bald macht Gertsch selber Fotos und überträgt die Motive in langer Arbeit, die bis zu einem Jahr dauert, und unter Einsatz des Diaprojektors auf Baumwolltuch.
Von 1986 bis 1995 gibt Gertsch die Malerei zugunsten grossformatiger Holzschnitte vorübergehend auf. Gemeint ist, dass der Künstler Holzplatten mit einem Hohleisen so einkerbt und bearbeitet, dass darauf gepresste Papierbögen ein Bild ergeben. Auf diese Weise entstehen etwa grosse Porträtbilder junger Frauen.
Mit 77 Jahren nimmt Gertsch ein neues, grosses Werk in Angriff: die Darstellung der vier Jahreszeiten. Es handelt sich einmal mehr um Bilder von grossen Dimensionen: «Winter» misst 3,25 auf 4,8 Meter. Auf diesem Bild malt Gertsch erstmals Schnee.
Zu Gertschs 90. Geburtstag eröffnet das Museum Franz Gertsch in Burgdorf am 21. März eine Ausstellung, die den Werken aus den Siebzigerjahren gewidmet ist. Mit einem fotorealistischen Bild von fünf jungen Leuten im Hippielook aus Luzern gelang Gertsch 1972 an der Kunstmesse documenta 5 im deutschen Kassel der internationale Durchbruch.
In diese Schaffensperiode gehören die international bekannt gewordenen grossformatigen Bilder der US-Rocksängerin Patti Smith.
Auf die Frage, ob diese Bilder auch für ihn die wichtigsten seien, sagt Franz Gertsch in seinem Atelier im etwas von Farbe befleckten Pullover, es sei nicht seine Art, die wichtigsten Bilder zu bestimmen. Die Bilder aus den Siebzigerjahren seien von der Aktualität bestimmt gewesen, Zeitdokumente.
Mit der Zeit seien seine Bilder immer zeitloser geworden. Seinen 90. Geburtstag wird Franz Gertsch «en famille» feiern.
http://www.museum-franzgertsch.ch
(SDA)