Von «Zwingli» bis «Platzspitzbaby»
Schweizer Historienfilme im Trend

Hinter dem Erfolg von Schweizer Spielfilmen mit historischem Hintergrund wie «Platzspitzbaby», «Bruno Manser» oder «Zwingli» steht die Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative von 2014. Und der Boom geht weiter und schwappt auch aufs Fernsehen über.
Publiziert: 23.02.2020 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 01.02.2021 um 08:48 Uhr
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«Platzspitzbaby» von Pierre Monnard (Release Januar 2020) mit Jerry Hoffmann als André, Sarah Spale als Sandrine und ihrer Tochter Mia, gespielt von Newcomerin Luna Mwezi. Szenenbild vom Zürcher Platzspitzareal der späten 1980er-Jahre.
Foto: Ascot Elite Entertainment Group/C-Films
Jean-Claude Galli

Dieses Wochenende kann «Platzspitzbaby» rund einen Monat nach der Premiere den 250'000. Besucher verzeichnen – ein toller Wert, welcher Pierre Monnards (44) Werk über das Zürcher Drogenelend in den 1980er-Jahren unter die Top 20 der meistgesehenen Schweizer Kinoproduktionen katapultiert. Und immer noch sind die Zuschauerzahlen konstant, eine nahe Absetzung ist nicht abzusehen. Bis zu den Top 10 – gehalten von «Ernstfall in Havanna» – fehlen nur noch 50'000 Eintritte.

«Platzspitzbaby» markiert die Spitze eines Booms: der Häufung von erfolgreichen Spielfilmen, die auf historischen Schweizer Stoffen basieren. Weitere aktuelle Beispiele sind die gerade angelaufenen «Moskau Einfach!» von Micha Lewinsky (47) über die Fichenaffäre von 1989 und «Jagdzeit» von Sabine Boss (54). Das Wirtschaftsdrama orientiert sich lose an den Suiziden von Wirtschaftsgrössen wie Ricola-CEO Adrian Kohler (2007) oder Zurich-Finanzchef Pierre Wauthier (2013).

Der Boom begann mit «Die göttliche Ordnung» von 2017

Auch 2019 zogen historische Stoffe aus der Schweiz: Im November begeisterte Sven Schelker (30) mit seiner Darstellung des seit 20 Jahren verschwundenen Basler Umweltaktivisten Bruno Manser in «Die Stimme des Regenwaldes» von Niklaus Hilber (50). Und Anfang Jahr zog Max Simonischek als Zürcher Reformator Huldrych Zwingli im gleichnamigen Film von Stefan Haupt (59) beinahe so viele Zuschauer an wie «Platzspitzbaby» zum jetzigen Stand. Den eigentlichen Boom-Start markiert «Die göttliche Ordnung» von Petra Volpe über die Abstimmung zum Frauenstimmrecht 1971. Das Werk erschien 2017 und figuriert mit 355'000 verkauften Tickets auf Platz 8 der Kino-Charts.

Volpe ist bestens geeignet, diesen Boom zu begründen. Sie vertritt eine geschichtsaffine Generation von hiesigen Regisseuren, die nicht mehr blindlings US-amerikanischen Unterhaltungsklamauk kopieren, sondern auf Gehalt setzen. Volpe spricht von einem «sehr langen Prozess mit viel Recherche und unzähligen Gesprächen». Entscheidend ist, für die Stoffwahl auch überzeugend einzustehen. «Schweizer Geschichte ist extrem spannend. Es gibt so viele verrückte Geschichten, die in Vergessenheit geraten sind oder von denen man meint, sie wären nicht besonders interessant», sagt Pierre Monnard.

«Die Schweiz traut sich kaum an eigene Konflikte»

Dazu kommt der Mut, aus dramaturgischen Gründen erfundene Spielhandlungen in den historischen Kontext zu stellen. «Man wählt Ereignisse aus, passt sie an oder lässt sie ganz weg. Es geht darum, einen roten Faden zu kreieren, dem die Zuschauer folgen können», beschreibt es Niklaus Hilber, der für ebensolche Elemente in seinem Manser-Film auch Kritik hinzunehmen bereit war. Für andere Stoffe wiederum muss zuerst die Zeit reif sein. «Hier brauchte es offenbar einen gewissen Abstand», sagt Micha Lewinsky zum Umstand, dass sich vor ihm niemand an den Fichenskandal wagte. «Die Schweiz ist ein Land, das sich kaum an die eigenen Konflikte traut. Anders als Deutschland, das seine Probleme scheinbar pausenlos aufarbeitet.»

Geburtshelfer des Booms war Bundesrat Berset

Gegenüber SonntagsBlick spricht er auch einen entscheidenden Punkt an, der am Ursprung des Booms steht. «Solche Filme sind erst jetzt möglich geworden, weil sich die Rahmenbedingungen der eidgenössischen Filmförderung verändert haben.» Eigentlicher Geburtshelfer war Bundesrat Alain Berset (47). 2014 hatte die EU den Schweizer Zugang zum Europäischen Förderprogramm «Media» nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative sistiert. Deshalb lancierte Berset das Programm «Filmstandortförderung Schweiz», kurz FiSS genannt, das im Juli 2016 in Kraft trat. Damit sollten Koproduktionen angeregt und die Schweiz als Drehort für Filme gefördert werden – mit grossem Erfolg. Ein Ende des Trends ist übrigens nicht in Sicht. Als nächster potenzieller Hit ist «Stürm: Bis wir tot sind oder frei» über den Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) von Oliver Rihs (48) in der Pipeline, angekündigt für Herbst 2020. Und auch SRF ist dabei: Ebenfalls im Herbst 2020 läuft die sechsteilige Serie «Frieden» über die Verhältnisse in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Max Hubacher (27) und Annina Walt (23) an – nach einem Drehbuch von Petra Volpe.

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