Foto: STEFAN BOHRER

Michelle Halbheer (34) über den Erfolgsfilm «Platzspitzbaby», der ihre Kindheit erzählt
«Ich weiss nicht, wie man ein gutes Mami wird»

Platz eins der Kinocharts: Das Drama «Platzspitzbaby» über das Leben von Michelle Halbheer (34) berührt die Schweiz. BLICK hat mit der Buchautorin gesprochen.
Publiziert: 21.01.2020 um 23:28 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2021 um 14:29 Uhr
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Michelle Halbheer, Autorin des Buches «Platzspitzbaby», fotografiert Ende Dezember 2019 beim Letten in Zürich.
Foto: Lunax
Jean-Claude Galli

Nach weniger als einer Woche Laufzeit hat der Film «Platzspitzbaby» mit Sarah Spale (39) und Luna Mwezi (12) bereits die 50'000-Zuschauer-Grenze geknackt. BLICK hat mit Michelle Halbheer (34), auf deren gleichnamigem Bestseller das Werk basiert, eine erste Bilanz gezogen.

BLICK: Sie konnten «Platzspitzbaby» zuerst nicht an einem Stück anschauen. Haben Sie es nun geschafft?
Michelle Halbheer: Ja, zusammen mit meinem Freund. Zwischendurch musste ich schluchzen, und er nahm mich in den Arm und hielt mir die Hand. Um mir zu zeigen, dass ich nun im «Jetzt» bin und nicht mehr im «Früher». Ich wurde später von den Zuschauern immer wieder gefragt: Wie fühlst du dich jetzt? Und ich sagte: Das weiss ich gar nicht, gebt mir ein wenig Zeit, ich habe einfach noch nicht zu Ende gefühlt, das war alles ein wenig zu viel für mich.

Weshalb entschlossen Sie sich, 2013 das Buch über Ihre Kindheit zu schreiben?
Darüber nachgedacht hatte ich früher schon. Zuerst wollte ich es erst tun, wenn die Mutter nicht mehr da gewesen wäre. Dann starb in St. Gallen ein Baby, weil die heroinabhängige Mutter das Milchpulver mit Kokain verwechselt hatte. Ich kann mich noch an die BLICK-Schlagzeile erinnern. Ich drehte innerlich komplett durch und konnte kaum mehr arbeiten. Ende 2012 wieder eine Schlagzeile zum selben Fall: Freispruch vor Gericht, weil die Mutter glaubhaft versichern konnte, dass sie ihr Kind geliebt habe. Ich stellte mir vor: Ich könnte betrunken meinen Vater totfahren und käme ins Gefängnis. Und auf Heroin kann ich mein Kind umbringen, und alles ist okay. Das kann doch nicht sein, da stimmt doch was nicht, sagte ich mir. Ich beschloss dann – einen Bruch in der Familie in Kauf nehmend –, keinen Tag länger zu warten und das Buch zu machen.

Geht es mit Ihnen als Autorin weiter?
Unbedingt, es gibt da gleich zwei Projekte: einerseits ein Kinderbuch mit ähnlicher Themensetzung, bei dem ich aktuell auf der Suche nach einer Illustratorin bin. Ich habe lange Kinderbücher in diese Richtung gesucht und fand ein gutes zum Thema einer psychisch kranken Mutter und auch Bücher zum Thema alkoholabhängige Eltern. Was ich nicht fand, waren Bücher über Eltern, die von harten Drogen abhängig sind. Andererseits hab ich so viel erlebt, dass ich auch nochmals ein Erfahrungsbuch nachlegen möchte. Aber erst, wenn sich das Ganze wirklich gesetzt hat und ich nicht mehr aus einer verletzlichen Position heraus schreiben werde. Wird es der zweite Band der Autobiografie? Oder ein Roman? Das ist noch offen. Es ist lange nicht alles erzählt, da muss noch viel raus.

Sie sind künstlerisch sehr vielseitig und malen auch ...
Als ich mit dem Buch auf Lesetournee war, kam ich oft heim und konnte bis zwei Uhr morgens nicht schlafen, weil so viel in mir drin weiterbrodelte. Doch mit Worten war es nicht zu fassen. Pinsel und Leinwand waren meine Rettung. Die verlangt nicht nach Worten, Satzstellung und Grammatik. Da kann ich einfach loslegen. Seit Jahren pflege ich das jetzt. Mich auszuleben, ohne sachlich bleiben zu müssen. Pure Wut auf die Leinwand gebracht. Am Schluss ist die Leinwand voll, ich leer, aber glücklich.

Was kann man aus dem Film mitnehmen? Und was aus dem Buch?
Durch den Film kann man das Verständnis für die Not in dieser Familie aufbringen. Und lernen, dass niemand nur böse ist und niemand nur gut. Es gibt nicht den bösen Süchtigen und alle anderen, die darunter leiden. Beide sind verloren in der Not. Die Mutter weiss: Sie muss aufhören, wird aber immer wieder rückfällig. Und das Kind weiss: Meinem Mami tut das alles nicht gut. Die Verzweiflung ist schlimm, zu wissen, da ist niemand, der einem helfen kann, und man ist eingeschlossen in einem kleinen Universum ohne Aussenkontakt. Was aber auch eine Quintessenz ist: Ein schwieriges Leben bedeutet nicht nur Not und Verlorenheit, sondern immer wieder auch Hoffnung, dass man aus der Hoffnung die Kraft für die Zukunft schöpft. Das Buch können Fachpersonen zum Beleg dafür nehmen, dass man lieber einmal zu viel als zu wenig eingreift und nachfragt. Dass man sich als Sozialarbeiter bewusst ist, wie ein Feuerwehrmann zu sein, der sein Leben gefährdet. Viele haben damals nicht eingegriffen, weil sie Angst vor meinem Mami hatten. Mutiger zu werden, sich zu trauen, das kann man lernen. Und auch mal die Polizei zu holen.

Haben Sie den Glauben an die Institution Familie verloren?
Ich glaube an die Familie im Sinne eines Zusammenhalts. Das muss aber nicht Blutsverwandtschaft sein. Ich habe bei meinen Freunden immer wieder ein Zusammengehörigkeitsgefühl erleben dürfen, und nun auch in der Familie meines Partners. Also eher bei Freunden als bei echten Verwandten, weil ich dort immer Angst habe, ob da ein Bruch kommt. Wohl, weil ich früher so viel Hoffnung in meine Mutter gesetzt habe. Es gibt keine Versprechungen, die man ernster nimmt als jene der eigenen Mutter.

Das macht es sicher auch schwierig für Sie, sich als Mutter vorzustellen?
Das ist einer der Hauptgründe, warum ich nicht Mami werden möchte. Ich habe mir das lange überlegt und hätte zu viel Angst. Wie kreiert man eine gesunde Familie für ein Kind? Wie wird man ein gutes Mami? Ich weiss das nicht, weil ich es nicht erlebt habe. Und ich traue es mir auch nicht zu. Das Mami von meinem Mami war alkohol- und tablettenabhängig und schlug regelmässig zu. Mein Mami hatte keine schöne Kindheit, konnte nicht aus ihrer Not heraus und stürzte ab. Später schlug sie auch mich und gab also etwas weiter, was sie versprochen hatte, nie zu tun. Die einzige Chance für mich, etwas nicht weiterzugeben, was ich nicht möchte, ist, gar kein Kind zu haben.

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