Michael Steiner zeigt das Leben einer orthodoxen Familie
Hinter dem Wolkenbruch

Die Verfilmung von Thomas Meyers Bestseller über einen abtrünnigen orthodoxen Juden gibt Einblicke in einen Teil der Schweiz, der sonst verborgen bleibt. Ohne Insider wäre das nicht möglich gewesen.
Publiziert: 25.09.2018 um 19:07 Uhr
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Aktualisiert: 26.09.2018 um 16:39 Uhr
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Motti (Joel Basman) bandelt mit Schickse Laura (Noémie Schmidt) an.
Jonas Dreyfus

Buben mit Schläfenlocken rasen auf Trottinetts übers Trottoir, vorbei an schwarz gekleideten Männern mit Bärten und breitkrempigen Hüten. Frauen in langen Röcken schieben Kinderwagen vor sich her, an einem Fenster raucht ein Hipster mit bedrucktem T-Shirt eine Zigarette.

Es ist das Strassenbild von Zürich Wiedikon, wo viele streng ortho­doxe Juden wohnen. Hier trafen wir Françoise Schwarz, selbst orthodox, für ein Gespräch. Schwarz hat sonst gar nichts mit der Filmwelt zu tun. Die fünffache Mutter half mit einer Handvoll Insidern, dass die Verfilmung des Bestsellers «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» einen authen­tischen Einblick gibt in ­einen Teil der Schweizer Gesellschaft, der für viele Nichtjuden ein Mysterium darstellt.

«Wolkenbruch» feiert am Samstag, 29. September, im Rahmen des Zurich Film Festival Weltpremiere, am 25. Oktober startet er offiziell in den Kinos. Das Drehbuch stammt vom Autoren des Romans, Thomas Meyer, der im SonntagsBlick-Magazin eine Kolumne zu Lebensfragen schreibt. Regisseur ist Michael Steiner, bekannt durch Filme wie «Mein Name ist Eugen», «Grounding» und «Sennentuntschi».

«Ohne Insider aus jüdischen Kreisen wäre der Film nicht möglich gewesen», sagt Steiner. Er habe zwar zehn Jahre in Wie­dikon neben Orthodoxen gewohnt, doch nur ­peripher etwas von ihrer Kultur mitbekommen. «Ich wusste, dass ich am Freitagabend eher keine Wohnungsparty machen sollte.»

Die Buchvorlage mit den vielen ­jiddischen Begriffen zeigt schon viel vom Leben in dieser in sich geschlos­senen Gemeinschaft.

Doch Filmbilder sind im Vergleich zur geschriebenen Sprache gnadenlos genau. Steiners Lieblingsbeispiel dafür, wie schnell ­etwas schiefgehen kann: Bei einer Szene stand ein hebräisch be­schriftetes Buch zuerst verkehrt ­herum im Bücherregal. «Ich hätte das selbst nie bemerkt. Als Regisseur möchte man keine Gefühle verletzen, weil man etwas nicht versteht.»

Die jüdische Mutter als ­hysterische Drama-Queen

«Wolkenbruch» schafft die Gratwanderung einer von nichtjüdischen Menschen gemachten Ko­mödie, die sich um eine streng ortho­doxe Familie in Zürich dreht. Hauptfigur Motti, gespielt von Joel Basman, soll seiner Mutter endlich die Freude machen zu heiraten. Die für ihn arrangierten Treffen mit potenziellen Ehefrauen aus frommen Haushalten sind ergebnislos, stattdessen verguckt sich der junge Mann in eine Kommilitonin an der Uni. Laura ist eine Schickse, wie Nichtjüdinnen auf Jiddisch genannt werden. Sie raucht und feiert gern. Die Probleme sind vorprogrammiert.

Das Highlight der 3,8 Millionen Franken teuren Produktion: Inge Maux in der Rolle der dominanten jüdischen Mame. Die österreichische Schauspielerin («Paradies: Liebe») spielt mit so viel ­Humor, dass man ihre Filmfigur trotz ihren hysterischen Anfällen einfach gernhaben muss. Ihr Sohn möchte man trotzdem nicht sein. 

Françoise Schwarz (57) gab der ­Filmcrew Einblick in ihr Leben als ­orthodoxe Jüdin. Und lud Regisseur und Co. zum Sabbatessen ein.

Ich half beim Dreh von ‹Wolkenbruch› mit, weil mir der ­Dialog mit nichtjüdischen Menschen wichtig ist. Viele haben ein einseitiges Bild von unserer Religion. Sie denken, dass es vor allem eine strenge Angelegenheit ist mit vielen Verboten. Die lebhaften und schönen ­Aspekte kennen sie weniger. Um zu zeigen, wie ein orthodoxer Haushalt aussieht, lud ich Regisseur Michael Steiner und Teile der Filmcrew zum Sabbatessen ein. Auch Joel Basman war dabei. Ich habe ihm gesagt, er soll gleich noch seinen Vater mitbringen. An Feiertagen koche ich selten für weniger als acht Personen.

Es gab traditionelle Gerichte wie Gefillte Fisch und Suppe mit Kneidlech. Das sind Knödel aus Matzeteig. Mein Mann und unsere ­beiden Söhne waren dabei. Wir haben gesungen und den Gästen die hebräischen Segenssprüche übersetzt. Es war ein Abend in warmer Atmosphäre. Michael Steiner hat mich ­gebeten, die Gerichte für die Sabbatszene im Film noch einmal zuzubereiten. Damit es für alle Aufnahmen ­reichte, machte ich fast ­hundert Kneidlech und ganz viel Gefillte Fisch. Bei uns ist es wichtig, dass Knie und Ellbogen bedeckt sind und die Oberteile nicht zu viel Ausschnitt haben. Als verheiratete Frau trage ich eine Perücke.

Ich verbrachte einen Tag auf dem Set, um der Ausstatterin zu helfen. Ziel war es, die religiösen jüdischen Frauenfiguren, die im Film vorkommen, authentisch aussehen zu lassen. Zwei unserer drei Töchter leben in Israel. Mit ihrer ­Hilfe habe ich für die männlichen Darsteller und Statisten jede Menge Hüte und Käppchen kommen lassen. Die Auswahl ist dort viel grösser als bei uns. Man bat mich auch, das Skript auf Ungenauigkeiten hin zu prüfen, die einem nicht­jüdischen Menschen ­womöglich durch die ­Lappen gehen.

Ich glaube, der Film zeigt auf eine lustige Art, wie wir leben, auch wenn vieles überzeichnet ist. Zum ­Beispiel das mit dem Brillen­laden mit den drei Modellen, in dem angeblich alle religiösen Zürcher ­Juden einkaufen. Ich würde sagen, 80 Prozent gehen heute zu Fielmann und ­wählen auch mal ein etwas moderneres Produkt. Warum ich mich für einen Film engagiere, in dem die Hauptfigur sich vom ­Glauben abwendet? Weil ich glaube, dass Motti wieder zu ihm ­zurückkehren wird.»

Sonja Levy (37) suchte für ­«Wolkenbruch» 450 Statisten. Dass es momentan viele Männer mit Bärten gibt, kam ihr zugute.

Startschuss für meine Firma. Ich arbeitete ­früher als Regieassistentin. Als die Produzentin Anita Wasser mich letztes Jahr fragte, ob ich für ‹Wolkenbruch› Statisten suchen wolle, sagte ich sofort zu. Dank meiner Erfahrung auf Sets lief das so gut, dass ich heute eine erfolgreiche Vermittlungsagentur für Statisten führe.

Für die Bar-Mizwa und andere Szenen haben wir versucht, ­Juden mit Bart, Schläfenlocken, Hut und schwarzer Kleidung zu engagieren, hatten aber wenig Glück. Die Mitglieder der ­Filmcrew dachten, dass ich aufgrund meines jüdischen Nachnamens offene Türen einrenne. Da meine Mutter nicht jüdisch ist, bin ich aber genauso eine Schickse wie die Laura aus dem Film.

Schlussendlich hat uns der ­Umstand zugespielt, dass es in Zürich viele Hipster mit Bärten gibt, die in Quartieren wohnen, wo sie täglich orthodoxe Juden sehen. Für sie war das natürlich eine Erfahrung, einmal selbst
so auszusehen. Für die Szenen im Vorlesungssaal und in der Mensa machten wir verschiedene Aufrufe. Das Buch kennt in der Schweiz ja fast jeder. Dementsprechend viele wollten mit Motti auf die wunderliche Reise kommen. Das Problem bei den Studenten war mehr, dass viele nicht ­auftauchten. Wenn ich 80 brauchte, musste ich 100 buchen. Statisten erhalten im Normalfall eine Spesenentschädigung und ein warmes Essen. Ich wusste, dass ich in irgend­einer Form zur Verfilmung des Romans beitragen möchte. Weil mein Vater jüdisch ist, war es für mich eine Herzensangelegenheit.

Mir war wichtig, bei den Statisten ein richtiges Bild zu vermitteln. Denn die Gefahr bei einer Komödie wie «Wolkenbruch» besteht, dass es am Schluss aussieht, als würde man sich auf Kosten ­einer Minder­heit amüsieren. Ich bin im Zürcher Unterland aufgewachsen und wohne schon seit Ewigkeiten in der Stadt. Die orthodoxen Juden gehören zum Bild von Zürich, auch wenn fast niemand etwas über sie weiss. Durch den Film schaue ich diese ­Gemeinschaft heute anders an. Wenn ich die jüdischen ­Kinder auf ihren Trottinetts sehe, geht mir das Herz auf.»

Jonny Epstein (65) beriet die ­Filmemacher bei den Dreharbeiten auf dem Friedhof. Ein Ort, an dem die Crew auf Details achten musste.

Ich bin im Vorstand der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich für die beiden Friedhöfe am Friesenberg zuständig. Dreharbeiten auf einem Friedhof sind eine sensible Angelegenheit. Für mich war klar, dass wir das trotzdem ermöglichen wollen. Gedreht wurde in der Abdankungshalle vor farbigen Glasfenstern.

Motti liegt in der Szene als alter Mann im Sarg. Den Schauspieler, der den Rabbiner spielt, wies ich darauf hin, in welche Richtung er schauen muss und dass er sich bei der Rede am Stehpult festhalten sollte. Es sind Details, die einem Juden sofort auffallen. Wenn man schon auf einem Friedhof dreht, muss auch alles stimmen. Darauf war ich genauso bedacht wie die Filmemacher. Mich hat es fasziniert, einen Einblick in ihren Beruf zu erhalten. Ich habe in der Versicherungsbranche gearbeitet – das ist eine ganz andere Welt.

Wodurch sich jüdische Beerdigungen vielleicht von denen anderer Religionen unterscheiden: Sie finden so schnell wie möglich statt – meistens innerhalb von 24 bis 48 Stunden. Danach beginnt die Schiwa. ­Sieben Tage trauern die Hinterbliebenen zu Hause, werden von Freunden und Verwandten umsorgt, gehen nicht arbeiten und müssen sich um nichts ­kümmern. Danach werden die Trauerbräuche schrittweise gelockert. Manche Männer rasieren sich nach 30 Tagen wieder, andere erst nach einem Jahr.

Ich wuchs als Einzelkind in Luzern in einer Familie auf, in der vor allem die jüdischen Traditionen wichtig waren. In der Schule trug ich keine Kippa. Am Samstag, unserem Ruhetag, ging ich in den Unterricht, schrieb aber nicht. Unsere drei Kinder sind religiös erzogen, was vor ­allem an meiner Frau liegt, die aus ­einem religiöseren Haushalt stammt als ich. Im Judentum gibt es eine grosse Bandbreite, wie Religion gelebt wird.»

Das Zurich Film Festival findet vom 27. September bis 7. Oktober statt und zeigt über 160 Filme aus 48 Ländern. Stars wie Judi Dench und Johnny Depp werden erwartet. «Wolkenbruch» feiert am 29. September im Rahmen einer Gala Weltpremiere.

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