Dieser eine Film bleibt in der Erinnerung haften und sticht aus allen anderen Beiträgen hervor: «Son of Saul». Es ist das bemerkenswerte Debüt des jungen Ungarn Laszló Nemes, der mit ganz eigenen filmischen Mitteln vom Horror des Konzentrationslagers Auschwitz berichtet.
Die Tonspur dröhnt unermüdlich, während die Abläufe der Nazi-Todesmaschinerie fast beiläufig geschildert werden - ohne dabei je an Schrecken zu verlieren. Damit gilt «Son of Saul» auch als einer der grossen Favoriten auf die Goldene Palme, die am Sonntag beim Filmfestival Cannes verliehen wird.
Und doch ist dieses Werk nicht das einzige mit Chancen auf eine Auszeichnung. Immerhin gab es bei dieser Festivalausgabe gleich mehrere Filme, denen es gelingt, anhand von Einzelschicksalen einen Blick auf grössere, gesellschaftlich relevante Zusammenhänge zu werfen.
Vor allem zwei sehr bildgewaltige Filme könnten daher am Ende triumphieren: Da ist zum einen das Drama «Carol» um die verbotene Liebe zweier Frauen in den 1950er Jahren. Nicht nur das Spiel der Stars Cate Blanchett und Rooney Mara ist bemerkenswert. Auch mit der detailgetreuen und stimmungsvollen Inszenierung von Patricia Highsmiths Roman setzt der US-Amerikaner Todd Haynes Massstäbe.
Ebenso wie der Italiener Paolo Sorrentino, der nach seinem Oscargewinn «La Grande Bellezza» einmal mehr einen Bilderrausch zeigt. In seinem melancholischen «Youth» - eine minoritäre Koproduktion mit der Schweiz - lassen sich Michael Caine und Harvey Keitel durch ihren Aufenthalt in einem eleganten Schweizer Berghotel treiben, blicken mit Wehmut und kleinen Momenten des Glücks auf ihr Leben zurück. Gerade Michael Caine spielt das so berührend, dass er am Sonntag als bester Darsteller geehrt werden könnte.
Überhaupt gab es bei diesem Festival einige starke Männerrollen: In «The Measure of a Man» etwa will Vincent Lindon als älterer Langzeitarbeitsloser endlich wieder Fuss fassen. Colin Farrell kämpft in der dystopischen Zukunftsvision «The Lobster» des Griechen Yorgos Lanthimos um ein selbstbestimmtes Leben und der sri-lankische Flüchtling «Dheepan» findet sich in einem Pariser Vorort wieder, der vom Rest der Gesellschaft isoliert scheint.
Bei den Frauen hingegen muss sich die Jury unter Vorsitz der Regie-Brüder Ethan und Joel Coen («No Country for Old Men») zwischen höchst unterschiedlichen Rollen und Darstellungen entscheiden. Rooney Mara zum Beispiel wuchs in «Carol» vom naiven Mädchen zur selbstbewussten jungen Frau heran, während Emmanuelle Bercot - die übrigens als Regisseurin mit «La tête haute» das Festival eröffnet hatte - in «Mon Roi» eine Tour de Force durch die Ehehölle durchlitt.
Möglicherweise entscheidet sich das Preisrennen aber auch erst auf den allerletzten Metern. An diesem Samstagabend nämlich feiert «Macbeth» mit dem deutsch-irischen Schauspieler Michael Fassbender seine Premiere.
Es wäre nicht das erste Mal, dass der letzte Wettbewerbsbeitrag das Feld von hinten aufrollt: Schon das gesellschaftskritische Drama «Entre les murs» ging 2008 so ins Festivalrennen - und gewann gleich einen Tag später die Goldene Palme.