«Ich bin auf der Suche nach Geräuschen, die still tönen», sagt Maurizius Staerkle Drux ("Die Böhms - Architektur einer Familie") Der Schweizer Filmemacher ist mit einem gehörlosen Vater aufgewachsen und reflektiert in «L’Art du Silence» einen Teil seiner eigenen Lebensgeschichte. In dieser kommt der Pantomime Marcel Marceau vor – der Regisseur hat das Schaffen des Weltstars früh kennengelernt und wollte «hinter die Maske von Bip schauen». So wurde der Clown aus dem Elsass genannt, der mehr als 40 Jahre auf der ganzen Welt getourt ist. Mit seiner L’Art du Silence, Kunst der Stille, hat er ganze Generationen verzaubert.
Es ist dem Regisseur hoch anzurechnen, dass er das Publikum langsam und sorgfältig an das Ungeheuerliche in Bips Leben heranführt. Tatsächlich basierte die Karriere von Marcel Marceau teilweise auf einem tragischen Hintergrund. Marceaus Vater war gegen Ende des Krieges deportiert und in Auschwitz umgebracht worden, er selber musste im Zweiten Weltkrieg vorerst auf die Schauspielschule verzichten und schloss sich der französischen Résistence an. Mit seinem Cousin Georges Loinger schmuggelte er mehrere Male jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz. Dabei brachte er ihnen bei, im wahrsten Sinne still zu halten. Die Flüchtlinge lernten, sich mit Mimen und Gesten zu verständigen, in Gefahrensituationen nicht zu sprechen. Pantomime sicherte ihnen das Überleben.
Eines dieser Kinder, heute eine Frau, hatte der Regisseur zufällig in New York kennengelernt. Ihre Aussage, dass ihr ein Pantomime das Leben gerettet hätte, brachte ihn auf die Idee, mehr über Marcel Marceau zu erzählen.
Pantomime, das weiss Maurizius Staerkle Drux aus eigener Erfahrung, ist nie geräuschlos. Man sieht und hört das im Film besonders schön in den Passagen, in denen sein Vater auftritt. Schmatzen, Atmen, die Zerbrechlichkeit seiner leisen Stimme - es sind zärtliche und seltsam bewegende Momente, wenn die vermeintliche Stille durchbrochen wird.
Der Regisseur ist nicht taub, er hört, und hat früh mit Musizieren begonnen. Und trotzdem von klein auf seine visuelle Aufmerksamkeit trainiert. Vielleicht beherrscht er deshalb diese Synthese zwischen Ton und Bild meisterhaft. Vielleicht gelingt es ihm deshalb, die manchmal erdrückend schwere Geschichte mit Leichtigkeit zu erzählen. Sicher aber kann er die Kunst Pantomime erklären, poetisch, ruhig, packend.
In “L’Art du Silence” kommt einerseits Marceaus Familie zu Wort. Seine letzte Ehefrau, Anne Sicco, die lange Direktorin der École Internationale de Mimodrame de Paris Marcel Marceau war, seine beiden Töchter Camille und Aurélia Marceau, beide Schauspielerinnen und Filmemacherinnen, sowie sein Enkel Louis Chevalier, der Tanz studiert. Und der Cousin Georges Loinger, der über 300 Kinder über die Grenzen schmuggelte.
Andererseits Rob Mermin, ein Schüler von Marceau, der seit seiner Parkinson-Diagnose die Pantomime nutzt, um Perspektiven jenseits der Krankheit zu vermitteln. Und schliesslich Staerkle Drux’ Vater, ein Bühnenkünstler, der mit der Pantomime seine Ausdrucksform gefunden hat.
Das Personal ist zahlreich, möchte man meinen, in diesem abendfüllenden Kinofilm über Marcel Marceau. Auch das kann man als Spiegel interpretieren - sein Schaffen hat so viele Künstler inspiriert und in ihrer Karriere begleitet.
«Stille ist für jeden etwas anderes», sagt der Regisseur. «Aber sie ist nie tonlos.» Was seine Protagonisten zu sagen haben, bekommt deshalb immer Gewicht. Die Ausschnitte, in denen sich eine Tochter fragt, ob der Vater sie anders geliebt hat als die Kinder, für die er zeitlebens aufgetreten ist, oder wenn die ehemalige Ehefrau erklärt: «Er war jemand anders mit Maske.»
Das ist eine der grossen Stärken von Staerkle Drux: Er setzt alles mit Bedacht ein, immer zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort. Nie spricht jemand ein Wort zu viel, keine Geste ist unangebracht, kein Lärm, ob im übertragenen oder wörtlichen Sinne, stört den Erzählfluss. Was geradezu verwunderlich ist, so viele Themen wie der Regisseur verpacken wollte.
Nebst den Gesprächen und Erzählungen ist viel Archivmaterial zu sehen. Marcel Marceau auf der Bühne. Im Schwarzweissfilm. Wie er «je vous aime» pantomimisch darstellt. Wie ein Baum wächst. Bei einer Aufführung vor Kindern, im Interview, seine Intentionen erklärend. Die weisse Hose, das rotweisse Ringelhemd, der schwarze Hut mit der Papierblume immer dabei.
Denn «L’Art du Silence» ist natürlich auch eine Hommage an das Filmschaffen überhaupt, an den «Urknall des Kinos», wie der Regisseur sagt. Pantomimen waren erste Stummfilmdarsteller. Marceau, erfährt man, konnte zum Beispiel Charlie Chaplin sehr gut nachahmen. Die vielleicht stärkste Botschaft aber ist diese: Wenn das Visuelle eine so grosse Rolle spielt, wie es bei der Pantomime der Fall ist, werden Grenzen aufgelöst. Staerkle Drux zeigt das auf am Beispiel von Marcel Marceau: «Nach dem Krieg fuhr er als erstes nach Deutschland. Trotz allem was er erlebt hat.» Pantomime kann den Schrecken erträglich machen.
*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
(SDA)