SonntagsBlick: Frau Isik, in Ihrem Film radikalisiert sich ein Jugendlicher aus der Schweiz und zieht in den Dschihad. Wie realitätsnah ist die Geschichte?
Esen Isik: Sehr. Ich lernte betroffene Familien kennen. Eine Familie aus Deutschland, die ich kenne, bat mich sogar um Hilfe. Ihr 17-jähriger Sohn zog los, um nach Syrien in den Krieg zu gehen. Dieser konkrete Fall war der Auslöser für meine Film-Recherchen. Ich wollte wissen, wie es passieren kann, dass ein junger, integrierter Muslim so radikal werden kann.
Wie lange lebte der Junge schon in Deutschland?
Das hat mich selbst erstaunt. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sogar in der dritten Einwanderergeneration.
Was hat die Familie dann erlebt?
Sein Vater und sein Onkel reisten ihm nach. An der türkisch-syrischen Grenze wartete der Junge auf die Schlepper. Diese sollten ihn nach Rakka in Syrien schleusen. Die Familie kam ihnen zuvor und brachte ihn in die Schweiz. Mit der Umsiedlung nach Zürich wollte sie ihn von seinem islamistischen Umfeld fernhalten. Wie ein Entzug. Der Vater und der Onkel konnten ihn letztendlich retten. Anfangs sah es aber nicht so aus.
Esen Isik (50) ist in Istanbul geboren, kam 1990 in die Schweiz und hat die türkische und Schweizer Staatsbürgerschaft. Zuletzt bekam sie den Schweizer Filmpreis mit dem Spielfilm «Köpek». Darin geht es um Gewalt in der Türkei – gegen Frauen, gegen LGTB-Menschen und gegen Kinder. Isik arbeitet auch im Frauenhaus Zürich Oberland. Sie berät und übersetzt für gewaltbetroffene Frauen. Seit Jahren lebt sie mit ihrer Tochter in Zürich.
Esen Isik (50) ist in Istanbul geboren, kam 1990 in die Schweiz und hat die türkische und Schweizer Staatsbürgerschaft. Zuletzt bekam sie den Schweizer Filmpreis mit dem Spielfilm «Köpek». Darin geht es um Gewalt in der Türkei – gegen Frauen, gegen LGTB-Menschen und gegen Kinder. Isik arbeitet auch im Frauenhaus Zürich Oberland. Sie berät und übersetzt für gewaltbetroffene Frauen. Seit Jahren lebt sie mit ihrer Tochter in Zürich.
Wie lebte der Junge dann in Zürich?
Sie haben ihn eingeschlossen. Die Wohnung war wie eine Zelle gebaut, mit Schlössern. Ich war zweimal dort und versuchte, ihn umzustimmen. Aber ich bin nicht zu ihm durchgedrungen.
Ihn einzusperren, ist eine radikale Massnahme.
Ich fand das auch schwierig und war deshalb hin- und hergerissen. Ich sagte ihnen das auch. Aber die Familie war verzweifelt. Sein Vater fragte mich einmal, was ich an seiner Stelle getan hätte.
Und?
Ich dachte an meine Tochter. Ich hätte wohl das Gleiche getan.
Ist der Junge religiös aufgewachsen?
Nein, gar nicht. Die Familie ist moderat. Es sind Aleviten, diese sind nicht streng muslimisch.
Sie selbst sind kurdisch-alevitisch.
Ich wurde deshalb auch wütend auf den Jungen. Die radikalen Muslime, die Salafisten, haben die Aleviten immer verfolgt. Für mich war es ein Verrat an seinen Grosseltern. Das ist vergleichbar mit einem jüdischen Jungen, der zu den Neonazis wechselt.
Im Film «Al-Shafaq» wächst der junge Burak in einer ihn liebenden Familie in Zürich auf. Trotzdem wird er Dschihadist. Wie kann das passieren?
Buraks Vater ist autoritär und streng gläubig. Er erwartet, dass sein Sohn die Religion so lebt wie er. Das baut Druck auf. Ich habe das bei vielen Jugendlichen gesehen. Sie haben ein sehr schlechtes Gewissen, wenn sie wie andere Jugendliche ausgehen und ein Bier trinken. Sie fühlen sich zerrissen.
Burak wächst in Zürich auf. In einer intakten Familie mit türkischen Wurzeln. Die Eltern sind religiös, aber nicht radikal. Moschee, Gebete – der junge Burak kann mit all dem wenig anfangen. Lieber trifft er sich mit seinen Hipster-Freunden, hört mit ihnen Musik, trinkt ein Bier, verliebt sich in ein Mädchen – ohne Migrationshintergrund. Und genau dieser Junge sucht dann Zuflucht bei radikalen Islamisten. Weil sein autoritärer Vater ihm keine Anerkennung gibt, dafür aber ein Islamist – als Geschäftsmann getarnt. «Al-Shafaq» ist die Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach einer eigenen Identität zwischen zwei Welten. Zwischen der muslimischen Familie und der westlichen Welt. Es ist eine Geschichte, wie es sie oft in Europa gibt. Das sagt Esen Isik im Interview. «Al-Shafaq» zeigt, was es für eine Familie bedeutet, einen Sohn an den IS zu verlieren. Schonungslos, aber einfühlsam. Mit einprägsamen Bildern aus einem nachgebauten Flüchtlingslager in der Türkei. Das Filmteam hat dort drei Wochen lang gedreht.
Burak wächst in Zürich auf. In einer intakten Familie mit türkischen Wurzeln. Die Eltern sind religiös, aber nicht radikal. Moschee, Gebete – der junge Burak kann mit all dem wenig anfangen. Lieber trifft er sich mit seinen Hipster-Freunden, hört mit ihnen Musik, trinkt ein Bier, verliebt sich in ein Mädchen – ohne Migrationshintergrund. Und genau dieser Junge sucht dann Zuflucht bei radikalen Islamisten. Weil sein autoritärer Vater ihm keine Anerkennung gibt, dafür aber ein Islamist – als Geschäftsmann getarnt. «Al-Shafaq» ist die Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach einer eigenen Identität zwischen zwei Welten. Zwischen der muslimischen Familie und der westlichen Welt. Es ist eine Geschichte, wie es sie oft in Europa gibt. Das sagt Esen Isik im Interview. «Al-Shafaq» zeigt, was es für eine Familie bedeutet, einen Sohn an den IS zu verlieren. Schonungslos, aber einfühlsam. Mit einprägsamen Bildern aus einem nachgebauten Flüchtlingslager in der Türkei. Das Filmteam hat dort drei Wochen lang gedreht.
Was befeuert eine Radikalisierung noch?
Es sind viele Faktoren. Wenn ein Jugendlicher zu wenig Anerkennung bekommt, sich innerhalb des Familienkreises oder der Schule minderwertig fühlt. Wenn dann eine Vertrauensperson kommt und sagt: ‹Wir brauchen dich, du bist ein Held, und Allah liebt dich!›, fühlen sie sich abgeholt.
Wieso ist die Ideologie so attraktiv?
Sie ist sehr fassbar. Sie gibt vor, was man tun und lassen muss. Und sie ist auf Angst aufgebaut. Mit Botschaften wie: ‹Wenn du nicht folgsam bist, wird dich Gott bestrafen.› Das gibt orientierungslosen Jugendlichen Orientierung.
In der Schweiz hört man bloss von wenigen Dschihad-Jugendlichen. Zuletzt vom Winterthurer Geschwisterpaar. Wie schlimm ist es wirklich?
Ich selbst habe das Potenzial anfangs unterschätzt. Die offiziellen Zahlen zeigen, dass 7000 Jugendliche aus ganz Europa für den IS kämpften. Davon sind die Hälfte Konvertiten! Ganz viele auch Frauen. In der Schweiz sind es offiziell mehrere Dutzend. Und dann gibt es noch eine Dunkelziffer von Jugendlichen, die nicht sichtbar sind. Die mit der radikal-islamischen Ideologie sympathisieren, aber hierbleiben.
Sind Jugendliche wie jener in Ihrem Film Opfer?
Burak ist Opfer der Umstände, aber er ist auch Täter. Er möchte nicht zurück, er ist bereit zu töten. Wir dürfen diese Jugendlichen und ihre Taten nicht verharmlosen. Mich beschäftigt aber auch der Gedanke, dass sie in der Schweiz geboren und zur Schule gegangen sind. Sie haben hier zum ersten Mal die Sterne gesehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns diese Ideologie unsere Kinder wegnimmt.
Und wie schaffen wir das?
Mit Erdogans Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien werden wieder Flüchtlinge kommen. Wir müssen uns dem Islam gegenüber öffnen. Die Interpretation des Korans darf nicht einzelnen Moscheen oder Familien überlassen werden.
Sie sprechen von der staatlichen Imamausbildung.
Ja. Wir müssen aber auch die muslimischen Kinder besser bilden. Warum sollten sie nicht ab der vierten Klasse Arabisch lernen?
Sie sprechen von der Kurden-Offensive. Sie selbst sind als Tochter kurdischer Aleviten in Istanbul aufgewachsen. Hat Ihre Familie Unterdrückung erlebt?
Meine Grosseltern haben 1938 ein Massaker überlebt. Meine Mutter kam im Zwangsexil auf die Welt. Darüber sprach man in der Familie nicht. Meine Mutter hatte immer grosse Angst, wenn es bei uns an der Tür klingelte. Ich wusste lange nicht weshalb. Als Kind habe ich auch irgendwann gemerkt, dass meine Eltern eine Sprache sprechen, die ich nicht verstehe. Mit uns redeten sie nur Türkisch. Wer Kurdisch sprach, wurde festgenommen.
1989 kamen Sie in der Türkei ins Gefängnis. Weil Sie Kurdin sind?
Nach dem Putsch in den 80er-Jahren war ich in der Jugendbewegung aktiv. Wir demonstrierten gegen das undemokratische System. Wir waren aber harmlos, sicher keine linksradikale Organisation. Ich erinnere mich, dass ich Flugblätter verteilt habe, weil es in den Gefängnissen Hungerstreiks gab. Deshalb hat mich die Polizei verhaftet.
Sie waren 17 Jahre alt.
Und ich sass sechs Monate lang in einer kleinen Zelle. Dort musste ich mich um eine noch jüngere Frau kümmern, der es schlecht ging. Es war hart, aber es gehört dazu, wenn man Widerstand leistet. Wir lebten in einem autoritären System, damit habe ich gerechnet.
Hatten Sie trotzdem nicht grosse Angst?
Nicht nur. Wenn ich jetzt an meine Tochter denke und daran, dass ihr so etwas passieren könnte, finde ich es schlimm. Aber ich weiss auch, dass ich einiges von dieser Gefängniszeit mitgenommen habe. Ich habe Menschen getroffen, die seit 15 Jahren eingesperrt waren. Ich habe viel über die türkische Gesellschaft gelernt.
Sie flüchteten 1990 in die Schweiz. Heute leben Sie hier und in der Türkei. Wo fühlen Sie sich mehr daheim?
Ich wollte viele Jahre lang ganz zurück. Heute kann ich mir das nicht mehr vorstellen. Ich fühle mich in Zürich zu Hause.
Al-Shafaq: Ab 29. Oktober in den Kinos. Am 31. Oktober findet im Anschluss an den Film ein Gespräch mit Esen Isik, Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle und Schauspieler und Szenekenner Artan Morina statt. Kino CineClub, Bern, 20.15 Uhr.
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