Normalerweise macht ein Filmfest mit seinen glamourösen Premieren, kontroversen Beiträgen und Stars auf dem roten Teppich Schlagzeilen. Das Festival in Cannes sorgte in diesem Jahr aber schon im Vorfeld für heftige Debatten. Mit einem Selfie-Verbot und der Abschaffung der Pressevisionierungen brüskiert Festivaldirektor Thierry Frémaux Publikum und Medienprofis gleichermassen.
Ein Konflikt mit Netflix eskalierte sogar so, dass es keine Filme des Streamingdienstes an der Croisette geben wird. Dafür kehrt Lars von Trier zurück. Der Däne war vor sieben Jahren wegen seiner Nazi-Äusserungen zur Persona non grata erklärt worden - einer der grössten Skandale in Cannes. Nun aber hat das Filmfest das Enfant terrible aus der Verbannung geholt und mit «The House that Jack built» über einen Serienmörder ausser Konkurrenz eingeladen.
Eröffnet wird das 71. Festival am Dienstagabend, 8. Mai, mit dem Iraner Asghar Farhadi. Der Oscarpreisträger drehte zum ersten Mal in spanischer Sprache und holte für «Everybody Knows» das Promi-Ehepaar Penélope Cruz und Javier Bardem vor die Kamera.
Es ist einer von 21 Beiträgen, die im diesjährigen Wettbewerb um die Goldene Palme konkurrieren. Spannend wird dabei sicher Spike Lees «BlacKkKlansman» mit Adam Driver und Denzel Washingtons Sohn John: Der Film erzählt die wahre Geschichte eines schwarzen Polizisten, der sich in den rassistischen Ku-Klux-Klan schmuggelte.
Der 87-jährige Wahlschweizer Jean-Luc Godard steigt mit dem experimentell angelegten «Le livre d'images» zwar für Frankreich ins Rennen, aber mit einem halben Fuss steht auch die Schweiz im Hauptwettbewerb: «Lazzaro Felice» der Italienerin Alice Rohrwacher wurde vom Tessiner Fernsehen RST minoritär mitproduziert.
Zudem läuft in der Kritikerwoche der Schweizer Animationsdokfilm «Chris the Swiss», der auch in Solothurn im Wettbewerb war. Bei der Preisvergabe mitreden wird zudem die Schweizer Regisseurin Ursula Meier: Sie ist Präsidentin der Nachwuchspreis-Jury «Caméra d'Or».
Eines der grössten Spektakel dürfte die Premiere von «Solo: A Star Wars Story» werden. Der noch unbekannte Alden Ehrenreich spielt in dem ausser Konkurrenz gezeigten Blockbuster den jungen Han Solo. Emilia Clarke hingegen, die Han Solos Gefährtin verkörpert, ist durch die Fernsehserie «Game of Thrones» bereits ein Star und wird von Fans und Fotografen sicher sehnsüchtig erwartet.
Trotz der langen Gästeliste unterscheidet sich die diesjährige Auswahl allerdings von früheren Jahrgängen: Viele grosse Arthouse-Regisseure, die bislang Cannes-Stammgäste waren, fehlen. Auch Hollywood-Produktionen sind im Wettbewerb auffallend wenig vertreten - die Jury mit Cate Blanchett und Kristen Stewart wird dort neben «BlacKkKlansman» nur noch «Under the Silver Lake» mit Andrew Garfield («The Amazing Spider-Man») als US-Beitrag sehen.
Vielleicht hat das auch mit organisatorischen Entscheidungen zu tun, die Festivalleiter Thierry Frémaux ankündigte und die im Vorfeld für Unruhe und teilweise massive Kritik sorgten: Wegen eines Streits mit Netflix um die Auswertung von Filmen in französischen Kinos zog der Streamingdienst seine Kandidaten zurück. Dazu sollen ein Werk von Oscargewinner Alfonso Cuarón («Gravity») sowie eine fertig gestellte Satire von Orson Welles gehören - ein herber Verlust für Cannes.
Frémaux hat ausserdem ein Selfie-Verbot auf dem roten Teppich erlassen und den Filmjournalisten die Pressevisionierungen gestrichen: Neu sehen die Kritiker die Filme nicht vorab, sondern gleichzeitig mit dem Publikum und haben deshalb viel weniger Zeit, das Gesehene zu durchdenken und ihre Artikel zu schreiben. Frémaux will so verhindern, dass vor den Galas erste Meinungen bei sozialen Medien wie Twitter kursieren.
All diese Massnahmen sind jedoch heftig umstritten: Gegen Streamingdienste, Twitter und Handyfotos anzugehen, ist pure Nostalgie - ein untauglicher Versuch, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken.