Film-Kritik zu «Schellen-Ursli»
Kann das Bilderbuch auch Film?

Ja, es ist ein Bilderbuch. Die Geschichte ist eigentlich nach 48 Seiten Illustrationen erzählt. Hat Regisseur Xavier Koller (71) sein mutiges Vorhaben geschafft und daraus einen überzeugenden Spielfilm gemacht?
Publiziert: 14.10.2015 um 23:59 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 18:53 Uhr
Von Cinzia Venafro

Diese eingeschneite Hausfassade! Diese Fresken an den meterdicken Engadinermauern - und dieser Bub mit der Zipfelmütze. Beim Anblick des Schellen-Ursli leuchten Kinder- und Erwachsenenaugen seit Generationen, ein jeder Deutschschweizer hat sich irgendwann im Leben mal mit diesem mutigen Jungen aus dem Engadin verbrüdert, ist mit ihm durch den Schneesturm hoch aufs Maiensäss gestiegen, um dann am «Chalanda Marz», dem traditionellen Winteraustreib-Brauch der Unterengadiner Schulkinder, die grösste Glocke um den Brunnen zu läuten.

Aber daraus einen Film machen? Über neunzig Minuten den Zauber des von Alois Carigiet (1902 - 1985) und Selina Chönz (1910 - 2000) erdichteten Welt nicht kaputt machen? Regisseur Xavier Koller (71, «Reise der Hoffnung») ist es gelungen.

Der Oscarpreisträger bedient sich in der ersten Kinofassung des Kinderbuchstoffes an einfachen und effektiven Drehbuch-Tricks: So kämpft der Churwalder Jonas Hartmann (11) als armer Bauernbub Uorsin gegen die Hänseleien des reicheren Krämerjungen Roman (gespielt von Laurin Michael,11 aus Andeer) , verfolgt von einem wilden Wolf, der ihm die Furcht vor dem Unbekannten zu nehmen scheint. Ein guter Pfarrer, (Andrea Zogg, 57), ein hinterlistiger Ladenbesitzer (grossartig verkörpert vom Zürcher Leonardo Nigro, 43) ein Unglück, ein Diebstahl – und nicht zuletzt die aufflammende Schwärmerei für das Nachbarsmädchen Seraina (Julia Jeker, 11 aus Schiers) lassen den Kinobesucher für 90 Minuten vergessen, dass er irgendwo im Unterland unter der Nebeldecke hockt und einer längst vergangen Zeit beiwohnt.

Wirklich bestechend in der mehr als sechs Millionen Franken teuren Produktion ist, wie die Zeichnungen von Carigiet integriert wurden: Sein «Schellenursli»-Haus scheint eins zu eins aus dem Kinderbuchklassiker entsprungen, beim Anblick des nicht ganz runden Brunnens auf dem Dorfplatz klingelt es – und die per Drohne eingefangenen Luftbilder demonstrieren majestätisch, warum, 20 Jahre nach Carigets Tod, dieses Tal Touristen aus aller Welt begeistert.

Kameramann Felix von Muralt (51) versteht sein Handwerk und hat, anders als beim letzten Literaturschweizer Stoff, den er für Koller auf Celluloid gebannt hat, keinen übertriebenen Kitsch zugelassen. Wirkte die Verfilmung von «Die Schwarzen Brüder» eher wie ein Streifen für einen Kindergeburtstag und liess die Rauheit der Buchvorlagen vermissen, so spürt man in «Schellen-Ursli» authentisch die Armut der Landbevölkerung. Wenn auch ein wenig romantisch verklärt.

Ab dem 15. Oktober entscheidet sich dann, ob das Kinopublikum sich im kargen Unterländer Winter imaginär ins Engadin begeben will. Den Bündnern selbst gefällt ihr Film – an der Uraufführung am Samstag Nachmittag in Chur gab es Standing Ovations. Damit es an der Kinokasse stimmt, muss der mit 3,3 Millionen öffentlicher geförderte «Schellen-Ursli» aber auch im grossen Kanton, in der soeben fertiggestellten Hochdeutschen Version, überzeugen. Und ob er wirklich auch so viel Begeisterung auslösen kann wie die zweite Schweizer Berggeschichte, die in diesem Winter zum X. Mal auf die Leinwand kommt – Heidi – ist fraglich. Denn der Schellen-Ursli lebt auch von der Erinnerung. Von Nostalgie. Und von ganz viel Mut.

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