Anatole Taubman zur «Akte Grüninger»
«Meine Vorfahren starben im Holocaust»

Er war schon Bond-Bösewicht und spielte im «Tatort» mit. Mit «Akte Grüninger» kommt für den Schweizer Anatole Taubman nun einer seiner wichtigsten Filme in die Kinos.
Publiziert: 25.01.2014 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:01 Uhr
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Andächtig: Anatole Taubman hat schon in 75 Filmen mitgemacht. Er will die Welt gerechter und schöner machen.
Foto: Philippe Rossier
Von Dominik Hug

BLICK: Sie sind nur selten in Schweizer Filmen zu sehen. Weshalb gerade in diesem?
Anatole Taubman: Ich war vom Drehbuch begeistert. Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich Paul Grüninger bis dahin nicht gekannt habe. Mir war auch jene Zeit  Ende der 30er-Jahre – eher fremd. Unterbewusst hat sicherlich auch mein jüdisches Blut mitgeschwungen, dass ich zugesagt habe. Und es hat mich auch gereizt, eine Person zu spielen, die es tatsächlich gegeben hat.

In «Akte Grüninger» spielen Sie Sidney Dreifuss, den Vater von Ruth Dreifuss. Haben Sie sich mit der alt Bundesrätin im Vorfeld unterhalten?Ja, ich war sechs Stunden lang bei ihr zu Hause in Genf und habe mit ihr und ihrem vier Jahre älteren Bruder Jean-Jacques über ihren Vater gesprochen. Ich war ganz verzaubert, als ich nach Hause fuhr. Sie haben mich Teil ihrer Familiengeschichte werden lassen. Es war eine sehr emotionale, berührende, auch eindrückliche Begegnung.

Der Film wurde im Vorfeld kritisiert. Er manipuliere die Wahrheit, um daraus ein Heldenepos zu machen. Wahr?
Wir machten einen Spielfilm, keinen Dokumentarfilm. Da wird natürlich etwas verdichtet. Aber es ist absurd, ja geradezu armselig, wenn der Film jetzt schlechtgemacht wird, weil nicht klar ist, ob 3000 oder 4000 Juden gerettet werden konnten. Wenn mehrere Menschen in etwas involviert sind, gibt es auch immer mehrere Wahrheiten. Fakt ist: Grüninger und Dreifuss haben Zivilcourage bewiesen und Heldentaten vollbracht. Sie haben sich gegen Bundesbern aufgelehnt und viele Menschenleben gerettet. Es ist wichtig, dass ein Kinofilm darüber gemacht wurde. Und dass jetzt eine Art Aufarbeitung stattfindet. Diesen Teil der Geschichte darf die Schweiz nicht verdrängen.

Haben wir Schweizer eine verkrampfte Beziehung zu unserer Vergangenheit?
Wir haben sicher keine lockere Beziehung. Genauso wenig wie die Deutschen zum Zweiten Weltkrieg. Was auch verständlich ist: Niemand wird gerne an frühere Schandtaten erinnert. Wir Schweizer erst recht nicht, wir haben es ja immer gern harmonisch, wir ecken nicht gern an. In letzter Zeit hat allerdings ein Umdenken stattgefunden, angefangen beim Film «Der Verdingbub», der ein anderes finsteres Kapitel unserer Geschichte beleuchtete. Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen. Nur so können wir verhindern, dass wir nochmals dieselben Fehler machen.

Wurden Sie wegen Ihrer jüdischen Abstammung eigentlich jemals diskriminiert?
Nein, nie. Dass ich jüdisch bin, habe ich zum ersten Mal mit 13 wahrgenommen. Das war beim Duschen nach einem Fussballspiel. Ich war nackt. Da fragte mich ein Kollege, ob ich Jude sei. Er meinte es nicht bösartig.

Ihre Religion war vorher bei Ihnen zu Hause nie ein Thema?
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerung ist es, dass ich mit meinen Eltern an einer Pessach-Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde Zürich teilgenommen habe. Da hatte es ganz viele andere Kinder, was ein Riesenspass war für mich. Aber das war für mich damals nicht speziell jüdisch. Als ich fünf Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden. Ich wuchs in einem Heim auf, dort war meine jüdische Abstammung kein Thema. Und auch später nicht, als ich im Kloster Einsiedeln ins Gymi ging.

Ihre Familie musste viele Opfer bringen. Hat Sie das nie zornig gemacht?
Doch. Ich hatte natürlich auch lange Zeit einen Hass auf die Deutschen. Von meinen Vor­fahren hat ausser einer Grossmutter niemand den Holocaust überlebt. Alle wurden ermordet. Anderseits gab es auch Lichtblicke in dieser Finsternis: Mein Vater war 1938 noch Erster Geiger an der Berliner Philharmonie. Der Pförtner sagte ihm damals: «Herr Taubman, was machen Sie noch hier, Sie müssen dringend raus aus diesem Land, retten Sie sich!»

Wie konnten Sie verzeihen?
Jeder muss verzeihen können, wenn die Welt ein besser Ort werden soll. Sonst drehen wir uns ewig im Kreis. Hilfreich war bei mir natürlich auch, dass ich mit den damaligen Gräueltaten nicht unmittelbar konfrontiert war. Im Gegensatz zum Beispiel zu meiner Mutter, die nach dem Krieg nie mehr einen Fuss auf deutschen Boden setzte. Meine Mutter war auch lange ganz böse mit mir, weil ich in Berlin lebe. Aber irgendwann sagte ich mir, dass ich mich um ihren Frieden nicht mehr kümmern kann. Ich muss selbst für mich Frieden machen. Man darf die heutige Generation nicht für die Schande ihrer Grosseltern verantwortlich machen.

Hat Ihre Religion auf Sie heute einen Einfluss?
Nein, null. Ich könnte auch katholisch oder buddhistisch sein. Ich glaube ans Schicksal, an eine höhere Macht. Aber ich bete keinen Gott an. Und ich glaube an das Gute im Menschen. Und daran, dass wir uns möglichst oft die Frage stellen sollten, wie viel Mitgefühl wir haben, wie viel Verantwortung wir übernehmen wollen, um diese Welt gerechter und somit schöner zu machen. Und um diese Kernfrage geht es auch in «Akte Grüninger».

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