Es gibt Berlinalen, die durch eine Häufung von Gemeinsamkeiten im Wettbewerb auffallen. Da wurde einmal in den Beiträgen besonders viel geraucht, ein andermal besonders viel geflucht. Diesmal fällt auf, wie keusch sich diese 68. Berlinale gibt. In lediglich fünf von bisher 17 gezeigten Filmen kommen Sex-Szenen vor. Anderes scheint diesmal wichtiger, und das ist häufig das existenzielle Ringen mit dem eigenen Leben.
Am Auffälligsten tritt der Sex noch im schwedischen Beitrag «Real Estate» auf, als sich eine 70-Jährige ohne grössere Umstände einem One-Night-Stand hingibt. Sie hat soeben ein Haus in Stockholm geerbt, bekommt aber damit so viel Ärger, dass sie schliesslich zur Selbstjustiz schreitet. Allerdings stört nicht nur die Häufung extremer Nahaufnahmen, auch der Schluss lässt den Zuschauer unbefriedigt zurück.
Drei Filme spielen historische Ereignisse nach: «Utøya 22. Juli» erinnert an das Attentat eines norwegischen Rechtsextremisten auf ein Jugendcamp auf einer Insel vor Oslo im Jahr 2011. Beklemmend werden dabei nicht nur das Ausgeliefertsein und die Unmöglichkeit des Entrinnens dargestellt, der Angriff wird zudem in Echtzeit von der Kamera ohne einzigen Schnitt nachgestellt. Dabei sticht die junge Hauptdarstellerin besonders hervor.
Eine andere Schauspielerin, die in ihrer Rolle aufgeht, gleichsam mit der Figur verschmilzt, ist Marie Bäumer als Romy Schneider in der deutsch-österreichisch-französischen Co-Produktion «3 Tage in Quiberon». Während dieser drei Tage lässt Romy Schneider in einem Interview für den «Stern» so offen in ihr Inneres blicken wie kaum zuvor. Das Dokumentarhafte der Schwarz-Weiss-Produktion gibt ihr etwas Authentisches und entfernt sie gefühlsmässig vom Spielfilm.
Ausser Konkurrenz wurde «7 Tage in Entebbe» gezeigt, ein Film über die Flugzeugentführung durch deutsche und palästinensische Terroristen 1976 nach Uganda und die Geiselbefreiung durch eine israelische Militäraktion. Geschickt springt der Film zwischen den einzelnen Spielorten hin und her, zeigt einen zaudernden Regierungschef Yitzhak Rabin und einen wenig sympathisch gezeichneten, verschlagenen Verteidigungsminister Shimon Peres.
Vor zwei Jahren war der philippinische Regisseur Lav Diaz mit einem achtstündigen Beitrag im Wettbewerb vertreten gewesen, dieses Mal ist sein Film, der die grausame Marcos-Ära in seiner Heimat behandelt, nur die Hälfte so lang, aber immer noch der längste Streifen dieses Berlinale-Wettbewerbs. Er sticht als Kunstfilm heraus, wurde in Schwarz-Weiss gedreht, die Protagonisten sprechen nicht, sondern singen. Bei der Kritik fand der Film grossen Anklang.
«Nur» drei Stunden dauert die deutsch-französisch-schweizerische Co-Produktion «Mein Bruder heisst Robert und ist ein Idiot», die Coming-of-Age-Geschichte eines Zwillingspaares, über dem die Aura von Inzest hängt. Die beiden lernen für die anstehende Philosophie-Matura des Mädchens in einem Feld nahe einer Tankstelle.
«Das ist alles meine Zeit», philosophiert Bruder Robert einmal. Das dürften sich auch zahlreiche Zuschauer gedacht haben, die noch während des Films den Saal verliessen. Die anderen dämmerten dahin oder husteten, bis zum wenig erhellenden Ende.
Am US-amerikanische Beitrag «Don't Worry, He Won ́t Get Far on Foot» verdriesst die Fülle an guten Botschaften. Über das Schicksal eines Alkoholikers, der nach einem Unfall querschnittgelähmt bleibt und Cartoons zu zeichnen beginnt, wird die altbekannte amerikanische Überzeugung transportiert: Wenn du hart an dir arbeitest, meisterst du auch das schlimmste Schicksal. Dass sich das reale Vorbild des Protagonisten, John Callahan, mit 59 Jahren umgebracht hat, wird überspielt.
Die iranische Komödie «Pig» hingegen hat zumindest schon einmal viel Wortwitz in den Dialogen, aber auch ein ernstes Fundament. Ein unbekannter Mörder bringt iranische Filmemacher um, indem er ihnen die Köpfe abschneidet. Nur der mit Drehverbot belegte Hasan gerät nicht in Gefahr, dafür aber in Verdacht.
Verfasser: Stefan May, APA