Interview mit Margrit Sprecher
«Ich habe nur vor Spinnen Angst»

Die Grande Dame der Schweizer Reportage Margrit Sprecher (84) über das Blumige ihrer ersten Reportage, das Enttäuschende an erfolgreichen Menschen und ihre Vorlieben in ihrem neuen Buch «Irrland».
Publiziert: 04.05.2020 um 07:10 Uhr
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Margrit Sprecher bekam 2016 in Anwesenheit von Bundesrätin Simonetta Sommaruga (59, r.) den Swiss Press Life Time Award.
Interview: Daniel Arnet

Margrit Sprecher, Sie gelten als Grande Dame der Schweizer Reportage. Aber auch Sie haben klein angefangen. Wann spürten Sie erstmals Ihre Berufung?
Margrit Sprecher: Als der Primarschullehrer meinen Aufsatz «Aus dem Leben einer Briefmarke» laut vorlas – übrigens ein frühes und besonders krasses Beispiel für Fake News.

Welches war Ihre erste faktenreiche Reportage?
Ein Bericht über die Taminser Dahlienschau für den «Freien Rhätier». Ich griff mit beiden Händen voll in den Farbtopf, der Bericht strotzte nur so von knallrot, enzianblau und goldgelb.

Vom knallroten Blumenbeschrieb zur knallharten Recherche: Heute schreiben Sie am liebsten über Mächtige und ihre Macht. Wie kams dazu?
Jede Macht wird früher oder später auf irgendeine Weise missbraucht – ganz besonders gern von Talkönigen. Sie sind gewissermassen meine Spezialität.

Die schreibende Sprecher

Die gebürtige Churerin Margrit Sprecher (84) ist die Grande Dame der Schweizer Reportage. Nach ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin arbeitete sie 15 Jahre lang für die «Elle», bevor sie 1983 zur «Weltwoche» wechselte. Seit 2003 arbeitet sie als freie Journalistin und veröffentlicht u. a. im «NZZ Folio», in «Die Zeit» und «Reportagen». Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Joseph-Roth-Preis, den Egon-Erwin-Kisch-Preis und zuletzt für ihr Lebenswerk den Graffenried Lifetime Achievement Award 2016. 2019 war sie Jurypräsidentin für den True Story Award, der jährlich für die weltbeste Reportage vergeben wird. Margrit Sprecher lebt in Zürich.

Die gebürtige Churerin Margrit Sprecher (84) ist die Grande Dame der Schweizer Reportage. Nach ihrer Ausbildung zur Dolmetscherin arbeitete sie 15 Jahre lang für die «Elle», bevor sie 1983 zur «Weltwoche» wechselte. Seit 2003 arbeitet sie als freie Journalistin und veröffentlicht u. a. im «NZZ Folio», in «Die Zeit» und «Reportagen». Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Joseph-Roth-Preis, den Egon-Erwin-Kisch-Preis und zuletzt für ihr Lebenswerk den Graffenried Lifetime Achievement Award 2016. 2019 war sie Jurypräsidentin für den True Story Award, der jährlich für die weltbeste Reportage vergeben wird. Margrit Sprecher lebt in Zürich.

Wieso?
Die Lokalpresse verschweigt ihr Schalten und Walten aus wirtschaftlichen Gründen, Beisshemmung oder Vetternwirtschaft, und ihre Kritiker sind längst frustriert ins Unterland abgewandert.

«Warum ich Pirmin hasse» schrieben Sie in der «Weltwoche» Ende der 1980er-Jahre, als der Skistar Zurbriggen der Liebling der Nation war. Bereuen Sie das heute?
Den Titel schon, den Inhalt nicht. Im Gegenteil. Das Thema ist aktueller denn je. Was mich damals störte, war, dass die ganze Schweiz einen durch und durch angepassten jungen Mann ohne Ecken und Kanten zum Idol erhob, der widerstandslos allen Autoritäten gehorchte. Ein Musterbubi und braver Ministrant eben.

Würden Sie heute über Roger Federer so schreiben wie damals über Zurbriggen?
Federer besitzt wohl ein etwas komplexeres Naturell.

Aber ungebrochen erfolgreiche Menschen ohne Ecken und Kanten scheinen Sie eh nicht besonders zu interessieren.
Die enttäuschen oft. Man weiss schon zu viel über sie, und sie sagen nichts Neues. Auch lassen sie sich nur interviewen, wenn sie was verkaufen wollen, einen neuen Song oder ein neues Buch.

Wann beginnt Sie eine Biografie zu interessieren?
Wenn jemand an einem persönlichen Kreuzweg steht – so wie der Österreicher Felix Baumgartner. Millionen Menschen hatten 2012 seinen Weltallsprung am Fernsehen mitverfolgt, die Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Zwölf Monate später erschienen beim Jahresjubiläum in Salzburg nur gerade eine Handvoll Lokaljournalisten.

Und Sie waren dabei: «Niemand scheint in Festlaune zu sein. Keine Korken knallen. Keine PR-Damen verteilen Presseunterlagen», schreiben Sie in der Reportage, die in Ihrem neuen Buch «Irrland» nachzulesen ist.
Aus dem Red-Bull-Helden war ein Nervenbündel geworden, das mit Steuerschulden kämpfte, von seiner Freundin verlassen worden war und gerade einen Lastwagenchauffeur zusammengeschlagen hatte.

In «Irrland» ist auch Ihr Artikel über den Luzerner «Todespfleger» Roger A. zu lesen. Warum schreiben Sie lieber über Täter als Opfer?
Sie sind, leider, meist viel spannender als ihre Opfer.

Gehen Sie bei Ihrer Arbeit immer noch gleich vor wie zu Beginn Ihrer Laufbahn?
Noch immer zieh ich mit Notizblock und Kugelschreiber los. Erstens kann ich so schon während des Gesprächs die Spreu vom Weizen trennen. Zweitens macht ein Tonband träge. Man lässt dem Gespräch seinen Lauf und hofft, dass schon irgendwas Brauchbares drauf ist. Zudem ist es todlangweilig, ein stundenlanges Gespräch abzuschreiben.

Und was hat sich verändert?
Radikal verändert hat sich das Recherchieren. Zu meinen Anfangszeiten herrschte diesbezüglich Steinzeit. Wir verbrachten ganze Tage im Papierarchiv und mussten praktisch jeden Artikel beim Wissensstand null beginnen. Heute klick ich auf Google, und das gesamte Weltwissen steht mir zur Verfügung.

Mit andern Worten: Gut gegoogelt ist halb geschrieben?
Genau. Eine grosse Gefahr. Google erstickt jede journalistische Entdeckerfreude. Es ist ja alles schon tausendfach beschrieben und meist auf die gleiche Art. Was soll ich da noch? Zudem kommt man bei Google nur auf Ideen, die andere schon hatten.

Was tun?
Um die ausgetretenen Wege zu vermeiden und nicht in die Recyclingfalle zu tappen, google ich vor einer Reportage oder einem Interview nur gerade so viel, um meine Gesprächspartner nicht mit meinem Nichtwissen zu beleidigen.

Auf welchen Kanälen bewegen Sie sich sonst noch im Internet? Facebook, Twitter, Instagram?
Ich bin zwar überall angemeldet, vergesse aber von Mal zu Mal das Passwort – und jetzt ist mir das Ganze verleidet. Mails dagegen beantworte ich sofort und erwarte umgehend eine Antwort. Das Pingpong kann mir nicht schnell genug gehen.

Sie sind bekannt dafür, nett zu fragen und bissig zu schreiben. Kalkül?
Meist erfolgt die bissige – ich sag mal: kritische – Einstellung erst beim Schreiben. Während des Recherchierens über die Schweizer Kampfpiloten zum Beispiel war ich über ihre absolute Hingabe an den Beruf hin und weg. Zudem kann sich niemand der Faszination einer startenden FA/18 entziehen, wenn sie in wenigen Sekunden von 0 auf 1000 beschleunigt.

Was passierte dann mit Ihnen?
Je länger ich am Text arbeitete, desto deutlicher überlagerten andere Beobachtungen meine Bewunderung: Kampfpiloten erschienen mir so genormt wie die Maschinen, die sie fliegen. Unerwartet waren auch die Rivalität zwischen Heli- und Kampfpiloten, die Anschlagbretter mit ihren Machosprüchen und dass sich die Piloten mit ihrem Vulgo wie Häsli oder Schniggi anredeten.

Das schlachteten Sie genüsslich in Ihrem Artikel von 2013 aus. Mit welchen Folgen?
Zwölf Westschweizer Kampfpiloten fühlten sich derart in ihrer Ehre getroffen, dass sie mich verklagen wollten. Luftwaffenkommandant Schellenberg hat es ihnen dann ausgeredet.

Kriegen Sie häufig gehässige Reaktionen auf Ihre Artikel?
Eigentlich ausschliesslich. Die deutsche Opernsängerin Anneliese Rothenberger schrieb mir: «Wenn ein Köter den Kölner Dom anpinkelt, ist das dem Dom auch egal.» Der Kabarettist Emil drohte, plötzlich humorlos, mit gerichtlichen Schritten. Und Sepp Blatter regte bei der Redaktion meine Kündigung an.

Im Internet-Zeitalter sind die Reaktionen mit der Kommentarfunktion unmittelbarer und direkter. Spüren Sie das auch?
Solche hingerotzte Kritik ist wertlos. Man kann sie nicht ernst nehmen und nichts daraus lernen. Kommt dazu, dass ich ziemlich kritikresistent bin. Wenn ich weiss, dass ich eine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben habe, kann mich nichts so leicht erschüttern.

Haben Sie nie Angst?
Angst habe ich nur vor Spinnen.

Sie mögen es offensichtlich, sich mit dem Mainstream anzulegen.
Das ist keine Frage des Mögens. Das ist eine Pflicht. Es ist der Medien-Mainstream, der Mitschuld am Zeitungssterben hat. Alle schreiben gleichzeitig über das Gleiche. Wer eine abweichende Meinung hat, schweigt lieber.

Dann müssten Sie eigentlich wieder für die «Weltwoche» schreiben, die unter Roger Köppel einen konsequenten Gegenkurs fährt.
Ich habe die «Weltwoche» nach wie vor abonniert, weil ich verschiedene Autoren sehr mag. Aber selbst schreiben – das würde schwierig. Der Druck, bei jedem Thema just das Gegenteil der gängigen Meinung zu suchen, ist nicht nur anstrengend und monoton. Es ist manchmal auch etwas lächerlich. Eine ganze Redaktion mitten in der juvenilen Trotzphase.

Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung des Journalismus?
Der grassierende Datums-Journalismus trägt zur zunehmenden Gleichförmigkeit bei. Egal, was gerade einen runden Geburtstag hat, Auschwitz oder die Schlacht bei Sempach – alle Blätter sind voll damit.

Und formal? Gibt es zu wenige Reportagen?
Es gibt immer mehr Kommentare und Kolumnen. Klar, Meinungen sind billig und brauchen wenig Zeit. Die Macht übernehmen jetzt eindeutig die Moralisten.

Sie gelten selber als anwaltschaftliche Schreiberin, die bei jedem Text eine Mission hat.
Mission ist ein gefährliches Wort. Mission führt häufig zu sogenannter Sozialarbeiterinnen-Prosa. Alles ist entsetzlich gut gemeint, aber leider auch entsetzlich langweilig und vorhersehbar. Zudem haben Worte wie empört und entsetzlich, mit denen solche Texte gespickt sind, längst keine Kraft mehr.

Wie viele Artikel haben Sie bis heute publiziert?
Ich schreibe jeden Monat eine Reportage, multipliziert mit 60 Jahren sind das 720 Texte.

Wie entscheiden Sie jeweils, für welche Zeitung Sie einen Artikel schreiben?
In der Regel entscheidet sich das Medium für mich. Meist möchte ich das vorgeschlagene Thema umgehend ablehnen: zu behäbig oder déjà lu. Dann fahre ich trotzdem wie 1998 an den Engadiner Ski-Marathon und entdecke: Es ist ja alles ganz anders als bisher gelesen. Für mich war der Marathon eine einzige grosse Parabel für den Existenzkampf: Überholen und überholt werden.

Auf welchen Text sind Sie besonders stolz?
Stolz bin ich höchstens darauf, unter welch widrigen Umständen ich manchmal zu einer Story gekommen bin.

Ein Beispiel bitte!
So verbrachte ich mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder auch ohne Interviewtermin einen ganzen Tag und eine halbe Nacht. Seine Pressestelle hatte mir geraten, ihn nach seiner Morgenansprache in einer Bremer Werft am Ausgang abzufangen und ihm vor seiner Weiterfahrt meine zwei, drei Fragen zu stellen. Ein Reporter-Albtraum.

Doch es blieb nicht bei einem Kürzestinterview.
Ja, dann kam alles anders. Schröder lud mich kurzerhand in den Regierungswagen – sehr zum Missfallen des «Spiegel»-Reporters, der neben dem Chauffeur sass. Wir beendeten den Tag auf dem Deutschen Presseball in Hannover, wo sich Schröder angeregt mit einem Reeperbahn-Bordellkönig unterhielt.

Das sind Herausforderungen bei der Recherche. Wo hatten Sie Schwierigkeiten beim Schreiben zu meistern?
In meinen Reportagen über einen Todestrakt in Texas. Es wäre einfach gewesen, die Zustände im Gefängnis, wo die Verurteilten auf ihre Hinrichtung warten, als skandalös zu bezeichnen. Und es hätte null Wirkung gehabt. Stattdessen muss man die Situation beschreiben, die zum Skandal führt.

Was heisst das konkret?
Dass in den Zellen Bruthitze herrscht, bleibt flach. Dass die Männer ständig blinzeln, weil ihnen der Schweiss durch die Augenbrauen rinnt, ist plastischer. Unter ungeniessbarem Essen kann man sich nichts vorstellen. Wohl aber unter einem Essen, das aussieht, als wär es schon halbwegs im Magen verdaut.

Genau hingeschaut, treffend beschrieben!
Auch Schikane bleibt ein Allerweltsbegriff. Nicht aber, wenn man beschreibt, wie beim Duschen der Strahl bald eiskalt, bald siedend heiss aus der Decke stürzt und das Morgenessen schon nachts um drei serviert wird, damit der Tag für die Gefangenen quälend lang wird.

Margrit Sprecher: «Irrland – Reportagen», Dörlemann; das Buch ist ab dem 7. Mai im Handel.

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