«Homecoming» hat viel mit der Geschichte der USA zu tun
Die Botschaft hinter Beyoncés erfolgreichen Netflix-Doku

Superstar Beyoncé schreibt mit 
der Verfilmung ihres Konzerts 
am Coachella-Festival Geschichte. 
Dass «Homecoming» mehr ist als eine gut gemachte Musikdoku, hat viel mit der Geschichte der USA zu tun.
Publiziert: 04.05.2019 um 15:01 Uhr
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Aktualisiert: 09.07.2019 um 09:34 Uhr
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Beyoncé eröffnet ihr Konzert in ­Coachella
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Jonas DreyfusService-Team

Ganz am Schluss zeigt sie sich doch noch als echte Diva. Mit einem Frotteetuch wischt sich Beyoncé den Schweiss von der Stirn und wirft es einem übergewichtigen Fan in der ersten Reihe zu, der hysterisch zusammenbricht.

Die Szene stammt aus «Home­coming» – dem neuen Film von Beyoncé (37), der weltweit auf dem Streamingportal Netflix Premiere feiert. Er zeigt den Auftritt der amerikanischen Sängerin am Coachella-Festival im Jahr 2018. Mit 200 000 Besuchern ist das Open Air in der Colorado-­Wüste Kaliforniens eines der grössten der Welt.

In der Mischung aus Konzert­mitschnitt, Musikdoku und Personenporträt inszeniert sich Beyoncé Knowles-Carter, wie sie mit vollem Namen heisst, als Teil einer Gruppe. Sei es als Mutter, als Chefin oder als Mitglied der afroamerikanischen Gemeinschaft. Während zweier Songs teilt sie sich das Rampenlicht sogar mit den beiden Mitgliedern ihrer ehemaligen Girlband Destiny’s Child, die sie 2005 zugunsten ihrer Solo-Karriere auflöste. 

Aber von vorne. 2018 wird Beyoncé als Haupt-Act des Coachella-Festivals angekündigt. In den vergangenen 20 Jahren standen Namen wie AC/DC, die Red Hot Chili Peppers oder Björk zuoberst auf dem Programm. Nur eine afroamerikanische Frau hatte noch nie die Ehre – in Hinblick auf die Rassengeschichte der USA ein No-Go. Dazu zitiert Beyoncé den Bürgerrechtler Malcolm X, der 1962 in ­einer Rede sagte: «Die am wenigsten respektierte Frau in Amerika ist die schwarze Frau.»

Eine neue Art von Live-Konzert mit Pauken und Trompeten

Queen B, wie ihre Fans sie nennen, schreibt mit ihrem Auftritt also schon allein aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts Geschichte. Was sie dann an zwei ­aufeinanderfolgenden Abenden bietet, definiert die Art, wie Live-Konzerte aussehen können, neu.

Mit ihr stehen 100 Sänger, Musiker und Tänzer auf der Bühne, die Hits wie «Crazy in Love» neu ­interpretieren und dabei auf einer rund 20 Meter hohen Pyramide eine ­Party feiern. Trotz Choreo­grafie und Kostümen scheint hier jeder sich selbst sein zu dürfen.

Als Inspiration dienten die Pausenshows von American-Football-Spielen. Im Zentrum: eine Marching Band mit Tubas, Pauken und Trompeten – die jede Guggenmusik alt aussehen lässt. Majoretten werfen Stöcke in die Luft und schlagen Räder. Coachella müsse in Beychella umbenannt werden, schreiben Musikkritiker nach dem Auftritt.

«Homecoming» zeigt das Konzert in voller Länge. Dazwischen gibt Beyoncé Einblicke in den Entstehungsprozess des Mega-Events, in ihr Leben als Mutter von drei kleinen Kindern und Frau von Rap-Star Jay Z (49). «Ich wollte, dass sich jede Person, die sich ­einmal abgewiesen fühlte, auf dieser Bühne wiedererkennt», sagt Beyoncé in einem Einspieler.

Typisches Showbiz-Gequatsche, werden Zyniker denken. Doch tatsächlich entspricht diese als grosse Familie inszenierte Crew nicht dem, was Konsumenten von ame­rikanischer Unterhaltung gewöhnlich zu sehen kriegen. Auch wenn es einem Europäer im ersten Moment vielleicht gar nicht auffällt.

Sie zollt den afroamerikanischen Universitäten Tribut

Beyoncé engagierte ausschliesslich Schwarze für die Show. Es sei eine Würdigung der für Afroamerikaner vorgesehenen Colleges und Universitäten in den Südstaaten, von ­denen einige noch vor dem Bürgerkrieg entstanden.

Obwohl heute auch Weisse die «Historically Black Colleges and Universities», kurz HBCUs, besuchen, sind sie noch immer ein ­Symbol für den Stolz der schwarzen Bevölkerung und ein geschützter Raum für eine Kultur, die ursprünglich von Sklaven in die Neue Welt gebracht wurden. Eine Kultur, die sich stets weiterentwickelte, sich ihren Wurzeln aber stets bewusst blieb.

Eine beispielhafte Szene aus «Homecoming»: Beyoncé steht mit schwarzen Lackstiefeln zwischen zwei militärisch gestylten Tänzerinnen. Aus den Lautsprechern pumpen die letzten Takte von «Baby Boy» – einem der vielen Hits von ihrem Solo-Debüt-Album «Dangerously in Love». Sie geht in die Knie, wackelt mit dem Hintern, wirft ihren Kopf mit der lockigen Mähne in den Nacken und die Arme nach hinten, als wolle sie sich von etwas befreien.

Es sind Bewegungen, die Rap- und Popfans unter Begriffen wie Twerking, Grinding und Krumping kennen, die aber – wie auch der Twist – aus dem afroamerikanischen Gesellschaftstanz hervorgingen. Mit ihm bewahrten sich Sklaven ein Stück ihrer afrikanischen Identität. Weil sie nicht trommeln durften, klatschten und stampften sie mit den Füssen. Beim Cakewalk ahmten sie den Gang der gehobenen, weissen Gesellschaft nach.

Beyoncé ist nicht die erste schwarze Sängerin, sie sich für ihre Community starkmacht, doch die erste Mainstream-Künstlerin, die das tut. Bereits in den ersten 24 Stunden nach Veröffentlichung sahen sich «Homecoming» 16,6 Millionen Men- schen auf der ganzen Welt an. Das Live-Album, das kurz darauf auf den Markt kam, erobert gerade die internationalen Charts.

Angeblich hat Frau Knowles mit Netflix einen Vertrag für zwei weitere Filme abgeschlossen und eine Gage von 60 Millionen Dollar ­ausgehandelt. Dank ihres Erfolgs in Coachella und der darauffolgen-den Tour mit Ehemann Jay Z war ­Beyoncé vergangenes Jahr die dritt­- erfolgreichste weibliche Sängerin der Welt, ohne ein neues Album ­herauszubringen.

Ein Landei aus Texas muss schuften

Sie wäre so gerne an eine HBCU ­gegangen, sagt Beyoncé in «Homecoming». Doch ihre Schule sei ihre Band Destiny’s Child gewesen und das Leben ihre Universität. Eine ­pathetische Umschreibung ihrer Kindheit und Jugend in Houston, Texas, wo sie als Tochter einer Coiffeuse und eines Vertriebsleiters für Heimdrucker zur Welt kam.

Ihre Eltern wünschten sich für ­ihre beiden Töchter ein besseres ­Leben und trimmten sie gnadenlos aufs Showgeschäft. Solange (französisch ausgesprochen) wurde ­etwas weniger gepusht als ihre grosse Schwester. Als Landei aus den Südstaaten, als das sich Beyoncé bezeichnet, reichte es nicht, gut zu sein. Sie musste die Beste sein. Und vor allem: arbeiten, arbeiten.

Heute hat sie geschätzte 500 Millionen US-Dollar auf dem Konto und schuftet immer noch, als ginge es einzig und alleine darum, nicht in die Armut abzurutschen.

Als sie mit den Proben für den Auftritt am Coachella, die acht ­Monate dauerten, begann, hatte sie sich gerade einigermassen von der Geburt ihrer Zwillinge Sir und Rumi (1) erholt, die per Notfall-Kaiserschnitt zur Welt kamen.
Bereits während der Schwangerschaft war es für Beyoncé zu lebensgefährlichen Komplikationen gekommen. Am Tag der Geburt wog sie laut eigenen Angabe bei­nahe hundert Kilo.

Beyoncé nützt die widrigen Umstände geschickt, um sich in «Homecoming» als Stehaufmännchen zu inszenieren. Sie gilt als Meisterin der Selbstvermarktung, die alles, was von ihr an die Öffentlichkeit gelangt, kontrolliert. Damit keine unvorteilhaften ­Bilder von ihren akrobatischen Tanzeinlagen in Umlauf kommen, sind vor der Bühne nur ihre haus­eigenen Fotografen zugelassen. Wer mit Beyoncé Party machen will, muss vorher eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen.

Jay Z ist im Film hauptsächlich als Babysitter zu sehen

Erst einmal zeigten sich Risse im perfekten Image. Das war, als sich Gerüchte über Fremdgeh-Eskapaden ihres Ehemanns als wahr herausstellten. Doch selbst aus dieser Sache ging die Betrogene gestärkt hervor, indem sie die Demütigung mit dem kämpferischen Album «Lemonade» verarbeitete und förmlich von einer weiblichen ­Solidaritätswelle überrollt wurde. Jay Z, der anschliessend auf dem Album «4:44» Reue zeigte, ist im Film hauptsächlich als Babysitter von Blue Ivy (7) zu sehen, der älteren Tochter des Paars. Am Konzert kommt er kurz auf die Bühne, um für den Song «Déjà Vu» seinen Rap-Part abzuliefern.

Dass Beyoncé «Homecoming» während des diesjährigen Coachella-Festivals veröffentlichte, ist ebenso kalkuliert wie der Umstand, dass sie «Lemonade» erst jetzt für die grosse Masse freigibt. Bisher war das Album nur auf der Plattform ­Tidal erhältlich, die Jay Z ­gehört, oder physisch als CD oder Vinyl-Platte. Beyoncé presst die ­Zitrone bis auf den letzten Tropfen aus.
Dass ihr Engagement für die ­afroamerikanische Gemeinschaft nicht allen gefällt – dieses Risiko nimmt sie in Kauf. Und setzt sich damit selbst ein Denkmal.

Im Bett mit den Stars

Wie gut Konzertfilme beim ­Publikum ankommen, hat die Queen of Pop (Bild) vorgemacht. «In Bed with Madonna» (1991) gehört bis heute zu den erfolgreichsten Dokumentar­filmen aller Zeiten. Wobei die ­Bezeichnung Doku mit Vorsicht zu geniessen ist: Die meisten Konzertfilme, ­darunter auch Beyoncés ­«Homecoming», zeigen die Stars so, wie sie sich selbst gerne ­sehen. Ein Stück Wirklichkeit dringt aber immer durch.

Wie gut Konzertfilme beim ­Publikum ankommen, hat die Queen of Pop (Bild) vorgemacht. «In Bed with Madonna» (1991) gehört bis heute zu den erfolgreichsten Dokumentar­filmen aller Zeiten. Wobei die ­Bezeichnung Doku mit Vorsicht zu geniessen ist: Die meisten Konzertfilme, ­darunter auch Beyoncés ­«Homecoming», zeigen die Stars so, wie sie sich selbst gerne ­sehen. Ein Stück Wirklichkeit dringt aber immer durch.

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