Patrick ist etwa Mitte 50, sein genaues Alter will er nicht verraten. Er ist chic gekleidet, als ich ihn vor dem Festivalzentrum an der Croisette, dem Uferboulevard in Cannes, vor dem Festivalzentrum erspähe. In der Hand hält er ein Schild: «Cherche invitation» steht darauf in Handschrift – «Ich suche eine Einladung». Ich frage ihn, ob er an eine der exklusiven Partys eingeladen werden wolle. «Nein, nein. Ich möchte nur Filme sehen», antwortet er etwas irritiert. Auf der anderen Seite der Absperrung reihen sich geladene Gäste und Filmschaffende Hunderte Meter lang, um Zutritt zum grössten und weltweit wichtigsten Filmfestival zu erhalten. Viele von ihnen halten ihre Akkreditierung in die Luft, die an einem Band hängt, auf der der Name einer grossen Kreditkartenfirma prangt. Rundherum haben sich Influencerinnen und Influencer postiert, um ihren Fans Content zu liefern – und um zu beweisen, dass sie zu den Auserwählten gehören, die an die Côte d'Azur geladen wurden.
Im Hafen von Cannes setzt derweil ein riesiges Kreuzfahrtschiff mit gebührendem Abstand zu den Mega-Yachten der Hollywoodstars seinen Anker und lädt Schaulustige zu einem Tagestrip ab. In dieser Masse von Menschen, umgeben von Werbeständen und Souvenirläden, geht die Romantik etwas verloren. Vielleicht ist es aber auch etwas naiv, anzunehmen, dass man hier Scarlett Johansson (39) und Timothée Chalamet (28) noch per Zufall bei einem Teller Austern und einem Glas Champagner im Strandbistro antrifft. Die Zeiten, in denen sich hier die Film-Bohème zum Klassentreffen verabredete, sind nicht erst seit gestern vorbei. Dennoch ist es etwas irritierend, wie durchkommerzialisiert das Filmfestival ist.
«Während des Festivals ist das Geschäft viel, viel besser»
Klar: Cannes ist längst eine Marke geworden – das bestätigt mir auch die Verkäuferin im offiziellen Festival-Shop. «Wir haben nicht nur während dieser Zeit im Mai geöffnet», erklärt sie. Das ist nachvollziehbar – ähnlich wie Hollywood steht die Küstenstadt das ganze Jahr für Glamour. Nirgends in Europa kann man als Normalsterblicher – wenn auch nur für kurze Zeit und von aussen – besser ins Leben der Schönen und Reichen eintauchen. Das hat aber vor allem während der zehn Festival-Tage im Mai seinen Preis. Die Kosten für ein Mittelklassehotel im Stadtzentrum bewegen sich in der ersten Woche jenseits der 500-Franken-Grenze – pro Nacht, notabene. Wobei es dieser Tage schwer ist, überhaupt noch ein Zimmer zu finden, die Cannes-Fans nehmen die hohen Preise gerne in Kauf. Die Ladenbesitzer an der Croisette freut die Spendierfreudigkeit der Touristen: Didier, der einen Tabak-Laden am Prachtboulevard führt, erklärt mir: «Das kann man nicht vergleichen. Während des Festivals ist das Geschäft viel, viel besser.»
Sollte man während dieser Tage im Mai also nicht nach Cannes fahren – nur weil man einer alten romantischen Idee hinterherhinkt? Die Antwort ist einfach: nein. Die Chance, wie in den 1970ern einem Hollywoodstar über den Weg zu laufen, ist verschwindend klein. Dafür sind die Sicherheitsbedenken zu gross, das französische Militär patrouilliert immerwährend mit geladenem Gewehr über die Croisette. Die Filmindustrie hat es schwer – und braucht das Geld ihrer Sponsoren. Und doch: Allein schon dort gewesen zu sein, wo Leinwand-Geschichte geschrieben wurde, reicht, um das Cineasten-Herz höher schlagen zu lassen.