Ingrid Tomkowiak (53) erklärt, warum wir über die Festtage immer die gleichen Filme schauen
«Rituale geben uns Sicherheit»

Kinder wollen immer wieder die gleichen Märchen hören, Erwachsene sind auch nicht anders: Warum wir uns auch diese Festtage zum 100. Mal «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» anschauen, erklärt Ingrid Tomkowiak (53), Professorin für Populäre Literaturen an der Uni Zürich.
Publiziert: 22.12.2019 um 22:41 Uhr
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Eine Liebesgeschichte, von der wir nie genug bekommen: «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel».
Foto: No Credit
Katja Richard

Aschenbrödel im Brautkleid zu Pferd und der Prinz, der ihr den Tanzschuh anzieht: Eine Szene, die man als Kind schon etliche Male gesehen habe. Das hält nicht davon ab, sich «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» über die Festtage erneut anzuschauen. Damit ist man nicht allein: Die tschechische Verfilmung von 1972 gehört zu den beliebten Klassikern über die Feiertage, genauso wie «Sissi» oder «Der kleine Lord» – um nur einige zu nennen. Warum aber verleiden diese immer gleichen Geschichten nicht irgendwann? Das erklärt Ingrid Tomkowiak (53), Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Uni Zürich.

Kinder wollen immer wieder die gleichen Märchen hören, wir Erwachsene sind nicht anders und schauen uns über die Feiertage zum 100. Mal die gleichen Filme an. Warum ist das so?

Ingrid Tomkowiak: Das Vergnügen an der Wiederholung ist etwas, was uns Menschen von klein auf eigen ist. Sie schafft Sicherheit und bestätigt unser Wissen. Wir suchen darin eine besondere Situation, um eine angenehme Stimmung «wieder zu holen». Das kann eine tröstliche Stimmung gewesen sein, sich aber auch mit Erinnerungen an Spannendes und wohligem Gruseln verbinden. Wenn es glückliche Feiertage waren, gehört ein Film wie «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» für uns jedes Mal wieder zum Weihnachtsglück dazu. Ohne ihn würde etwas fehlen.

Warum wird das nicht langweilig?

Weil wir das schon bekannte Märchen oder den geliebten Film jedes Mal wieder neu hören und sehen. Uns fallen andere Dinge auf als beim letzten und vorletzten Mal, wir stellen Vergleiche an mit anderem, was wir seitdem erfahren, gelesen, gehört oder gesehen haben. Gerade weil wir die Geschichte schon kennen, können wir nun auf bestimmte Details oder Besonderheiten achten.

Die Weihnachtsgeschichte wiederholt sich auch jedes Jahr ...

Auch hier geht es darum, den als frohe Botschaft bezeichneten Kern dieser christlichen Geschichte jedes Mal neu zu erfahren, aufzunehmen, zu überdenken und in das eigene Leben hineinzulassen.

Was bedeuten solche Rituale?

Orientierung und Sicherheit. Wer sich an Rituale hält, weiss, was zu tun ist. Das Risiko, etwas falsch zu machen oder sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, wird auf ein Minimum reduziert. Gleichzeitig bin ich offen für die Variation, die auch Rituale bieten, denn eine exakte Wiederholung kann es nicht geben.

Was ist das Rezept von erfolgreichen Märchen und ist es noch das gleiche wie vor 100 Jahren?

Die Zaubermärchen, wie die der Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts, folgen einer einfachen, aber universellen Struktur, die bis heute für populäre Geschichten im Bereich der Unterhaltung grundlegend ist. Am Anfang steht oft eine Mangelsituation wie Armut oder ungerechte Behandlung – diese gilt es zu überwinden. Held oder Heldin ziehen aus, werden Prüfungen unterzogen, müssen Aufgaben lösen, treffen auf Gegenspieler und Helfer, oft solche mit magischen Fähigkeiten. Man muss sich bewähren, findet Glück, Liebe, Reichtum und Macht. Die Figuren haben einen eindeutigen Charakter, es ist oft der Jüngste, Ärmste, der Aussenseiter.

Wie stark darf sich das Märchen verändern?

Dadurch, dass die Struktur so klar ist und die Figuren so flächenhaft, kann man die Geschichte immer wieder neu erzählen und aktualisieren. Figuren werden zu menschlichen Charakteren mit Vergangenheit und psychologischer Tiefe. Das passiert seit es auch Illustrationen, TV-Serien oder Filme auf der Basis dieser Märchen gibt, immer wieder überraschend anders.

Sind Märchen wie «Aschenputtel» – besonders in Bezug auf die Frauenrolle – überhaupt noch zeitgemäss?

Nein, wenn man allein die grimmschen Fassungen betrachtet, sicher nicht. Aber heute kennen wir alle mindestens eine Filmversion von Aschenputtel. Nehmen wir «Drei Haselnüssen für Aschenbrödel». Dieser noch zur Zeit des Sozialismus gedrehte tschechoslowakische Film zeigt eine sehr emanzipierte junge Frau, die sich wehrt, ihre Interessen durchsetzt und sogar dem Prinzen Paroli bietet. Hier zeigt sich das Potenzial, das diese Stoffe für Aktualisierungen bieten, recht deutlich.

Was geben uns Märchen?

Ein Gefühl der Hoffnung: auf den guten Ausgang, sozialen Aufstieg, Gerechtigkeit. Der optimistische Grundton ist Teil von Märchen.

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