«Die wahre Tragödie besteht nicht darin zu sterben, sondern geboren zu werden.» So die Essenz der Poetik des Mailänder Malers Franco Francese (1920-1996), dessen Gemälde bis Februar dieses Jahres im «Deposito» der Stiftung für Kunst von Cugnasco-Gerra ausgestellt waren, einer umfangreichen Sammlung von Werken der Malerei, Skulptur und Fotografie.
Bei der Auswahl der Werke galt die Aufmerksamkeit des Sammlers Mario Matasci vor allem den Strömungen der informellen und expressionistischen Kunst mit einer ganzen Reihe italienischer, schweizerischer und deutscher Künstler, darunter zum Beispiel Ennio Morlotti, Varlin, Käthe Kollwitz und Johannes Robert Schürch.
In seinem «Deposito» begegnet Matasci jedem Besucher mit herzlicher Gastfreundschaft. Man ist als Gast sogleich überrascht von der Bescheidenheit, mit der er einem erzählt, was er als Winzer in Gang gesetzt und erlebt hat, aber auch von der Bedachtsamkeit, durchzogen von Melancholie, mit der er seine Entscheidungen als Kunstliebhaber und Galerist erklärt.
Matasci begleitet einen während des ganzen Besuchs und kommentiert jedes Bild mit liebevoller Leidenschaft, fast so, als ob er jedes Mal einen lieben Menschen, einen Sohn, präsentierte. Seine sorgfältigen Erläuterungen der ausgestellten Werke lassen jeden Besucher an seinem Universum teilnehmen.
Matasci ist 1931 geboren, als Sohn des aus Sonogno im Verzascatal stammenden Giuseppe und der Lucia Gianettoni. Sein Vater war zusammen mit Carlo Balemi Eigentümer des gleichnamigen Weingutes in Tenero.
Mario besuchte das Collegio Papio in Ascona und dann das Gymnasium in Schwyz. «Ich wollte Zeichenlehrer werden, ein Fach, in dem ich immer hervorragende Noten hatte.» Aber das Schicksal hat anders entschieden: Er absolvierte ein Önologiestudium in Lausanne und machte Praktika in Canelli im Piemont und bei der Firma Schenk in Rolle.
1956, nach dem plötzlichen Tod seines Vaters, übernahm er mit seinen Brüdern Peppino und Lino die Leitung des Familienunternehmens. Er krempelte die Ärmel hoch, widmete sich ganz dieser Tätigkeit und setzte dabei das in der Westschweiz und im nahen Italien Erlernte um. Über etwas anderes nachzudenken, blieb ihm keine Zeit, bis ihn gegen Ende der sechziger Jahre ein Zufall mit der Welt der Kunst in Verbindung brachte.
Alles beginnt 1969 in der Taverne «Contrattempi» in Losone. Ein grosser Mann mit dickem dunklem Bart, der Bündner Maler Erwin Sauter, sieht den Unternehmer aus Tenero, der da an einem Tisch sitzt und auf einen Winzerkollegen aus der Gegend wartet.
Er geht auf ihn zu, gesteht ihm, dass er Geld braucht und bietet ihm den Kauf eines Gemäldes an: eine Frau, die auf Kieselsteinen schläft. Das rätselhafte Werk gibt dem Winzer ein unerwartetes Gefühl. Es wird zum ersten Bild einer enormen Sammlung von tausend Werken, einem grossen Ganzen, das auf den Menschen und dessen fast immer dramatische Existenz verweist.
Sauter möchte seine Gemälde auch dem Tessiner Publikum bekannt machen und bittet Matasci um seine Hilfe. Der stimmt zu, motiviert durch die Tatsache, dass es im Tessin in jenen Jahren keinen Ausstellungsraum gibt, der jenen Malern als Vitrine dienen könnte, die den Weg in die figurative Kunst wagen.
Er organisiert in den Kellern der Villa Jelmini eine Ausstellung, die erste einer langen Reihe - ein Akt echter Gönnerschaft. Der junge Locarnese, mit der bildenden Kunst noch wenig vertraut, gewinnt so den Zugang zu einer Realität, die reich an unerwarteten Nuancen und menschlichen Kontakten ist, und es ihm ermöglicht, alles, was ihn umgibt, mit neuen Augen zu sehen.
Von nun an beginnen viele Maler der Gegend sich mit ihm in Verbindung zu setzen, um ihre Werke in den Kellern des Weingutes auszustellen. Bei Matasci zu landen ist bis heute ein Höhepunkt für einen Künstler und bedeutet eine öffentliche Anerkennung mit hohem Prestige.
Ein weiteres Verdienst von Mario Matasci war und ist der Wille, im Bereich der Kultur frei und unabhängig zu agieren. Er stellt sich denjenigen, die seine Leidenschaft und sein Wissen suchen, zur Verfügung und trägt dazu bei, die kreative Arbeit von Künstlern zu fördern, die es wert sind, wahrgenommen zu werden.
Der Sammler ist nicht einfach in den Besitz einiger Bilder gekommen und hat sie in einem gut versteckten Gewölbe versteckt; im Gegenteil, er hat beschlossen, seinen Schatz in geeigneten Räumen unterzubringen, neben dem «Deposito» in einer Galerie und einer Villa, und ist immer bereit, alle willkommen zu heissen, die mit ihm das Interesse an der Malerei teilen wollen. «Wenn du deine Dinge wirklich liebst, bist du glücklich, wenn andere sie sehen können», vertraut er seinen Gästen mit ruhiger, fast demütiger Stimme an.
In den oberen Stockwerken der eleganten Weinhandlung Tenero, in der sich die Collezione Matasci befindet, gibt es weitere Räume, in denen jeder die künstlerische Welt des Önologen erkunden kann; der Eintritt ist kostenlos, alles muss so spontan wie möglich sein.
Das gleiche Prinzip gilt für den «Deposito» in Cugnasco-Gerra, ein heller Salon im Grünen, mit einer umfangreichen Bibliothek von Kunstbüchern, 2009 eröffnet als Sitz der Fondazione Matasci per l‘Arte. Hier finden Gemälde Platz, im Wechsel, die in fünfzig Jahren geduldig gesammelt wurden.
Jede Ausstellung wird von einem Katalog begleitet, früher von Intellektuellen aus dem Tessin und der Lombardei erstellt (darunter Piero Bianconi, Virgilio Gilardoni, Giovanni Testori), dann vom Locarneser Sammler selbst herausgegeben. Die gegenwärtige Ausstellung mit dem Titel «Caos, Cosmo, Colore. Tre capitoli lucreziani» markiert ein schönes Jubiläum: fünf Jahrzehnte ist es her seit der ersten Ausstellung in der Galleria di Tenero.
«Ich fühlte mich immer zu unbeachteten Persönlichkeiten hingezogen», sagt Matasci gerne. Dass er fast alle Maler persönlich kennen lernte, die ihre Bilder in seiner Sammlung ausstellten, ist deshalb kein Zufall. «Ein Bild muss mir eine Emotion geben können», sagt er, ohne zu zögern.
Mailand ist sein Zentrum der Künste, wo er seit Jahren Ausstellungen und Galerien besucht, immer auf der Suche nach einem neuen Werk, mit dem er seine Sammlung bereichern kann. Sein Ziel ist es, das Verborgenste ans Licht zu bringen und es anderen bekannt zu machen. Eine Geste der reinen Grosszügigkeit, die fast etwas Mystisches an sich hat in einer Gesellschaft, die vor allem durch Egoismus gekennzeichnet ist und Wohlstand und Reichtum zur Schau stellt.
Der begeisterte Leser und Liebhaber der Künste hat es auch geschafft, das Familienunternehmen zu erneuern. So kreierte er 1964 das Label und die spezielle Mischung des Merlot «Selezione d'Ottobre», ein Produkt, das dazu beigetragen hat, die Tessiner Trauben in der ganzen Schweiz bekannt zu machen.
Das Weingeschäft hat die Arbeit des Galeristen und Sammlers nie beeinflusst. Da es jedoch bald einmal profitabel war, erlaubte es ihm, den Kauf von Kunstwerken finanzieren. Fest steht jedenfalls, dass die beiden Sphären, der Wein und die Kunst, die Marke Matasci einzigartig machen und sie von anderen Firmen auf der Alpensüdseite unterscheiden.
Verfasserin: Tania Giudicetti Lovaldi, ch-intercultur
Übersetzung: Daniel Rothenbühler
(SDA)