Atelier Creahm in Villars-sur-Glâne, einem Vorort von Fribourg: ein schokoladenfarbener Pavillon mitten in einem aufgeräumten Einfamilienhaus-Wohnquartier, im Innern durchflutet von warmem Licht. Männer und Frauen, die in Gedanken versunken an Tischen und Staffeleien arbeiten. An den weissen Wänden ein Panoptikum aus Malereien und Zeichnungen, denen die verschiedensten Techniken zugrunde liegen: Farbstifte, Kohle, Acrylfarben. Köpfe mit grossen Augen, in feinen Tusch-Strichen gezeichnete grafische Universen, Rundumeli in allen Farben.
Im Raum mit der grossen Fensterfront beugen sich am langen Tisch zwei Männer und eine Frau über ihr Papier. Sie malen ruhig und konzentriert. Oben am Tisch sitzt Léonard Périès mit Baseballcap, der seit 2008 jeweils einen Tag pro Woche das Atelier besucht. In seinen Zeichnungen wimmelt es von ineinander verschachtelten Köpfen fantastischer Wesen, von denen die meisten einen stechenden Blick haben und einige einen Mund in Z-Form.
Périès geht immer von der gleichen Szenerie aus, variiert aber die Technik. Einige seiner Bilder sind mit Kohle gezeichnet, die anderen farbig ausgemalt. Sein Werk «Flammèches en volutes», «Flammen Schnörkel», eine dreidimensionale Skulptur, steht auf dem grünen Rasen vor dem Atelier.
Seit der Gründung 1998 ist es die Philosophie von Creahm, die Nutzerinnen und Nutzer des Ateliers als Künstlerinnen und Künstler zu fördern und nicht als Menschen mit einer Beeinträchtigung. Gion Capeder, der mit seiner Kollegin Laurence Cotting das Atelier leitet, präzisiert: «Wir konzentrieren uns auf die Qualität der Werke und die Entwicklung der künstlerischen Arbeit.»
Nach diesen Kriterien werden die Interessenten, die sich für einen Atelieraufenthalt bewerben müssen, auch ausgewählt. Danach gehe es darum, Originalität und Persönlichkeit herauszuschälen und darauf aufzubauen. Capeder und Cotting haben keinen heilpädagogischen Hintergrund, sondern sind beide künstlerisch tätig: Er ist Comiczeichner und Illustrator, sie Kunstmalerin.
Géraldine Piller besucht seit 16 Jahren das Atelier und ist zurzeit einmal pro Woche hier. Für die Besucherin schlägt sie ihr Buch mit Arbeiten aus den vergangenen Jahren auf. Blumen in den verschiedensten Farben, zauberhafte Vogelwelten und liebevolle Kohle-Porträts von Menschen aus ihrem Umfeld.
Piller erklärt, wer darauf zu sehen ist: Benoît, Christine, Isabelle, Letztere sei auch einmal im Atelier gewesen, aber inzwischen verstorben. Weiter hinten: ein Bild von Pillers Familie «an einem glücklichen Tag". Heute hat die Creahm-Künstlerin zum ersten Mal eine Blume gemalt, deren Wurzel auch sichtbar ist. «Eine Blume mit Wurzel ist auch schön», findet sie, holt aber dennoch die Meinung von Atelierleiter Gion Capeder ein. «Mir gefällt dieses neue Detail, teste das Ganze doch weiter aus», rät er ihr.
Zurzeit besuchen 18 Personen das Atelier, die meisten wohnen in Fribourg und Umgebung, besuchen Werkstätten, leben in Wohnheimen oder bei den Eltern. Pro Tag zahlen sie dem Verein Creahm zehn Franken für künstlerische Beratung, Material, die Organisation von Ausstellungen; jährlich organisiert Creahm zehn bis zwölf davon. Es sei eine wichtige Anerkennung, so Capeder.
Zugleich finanziere sich Creahm auch mit den Verkäufen der Werke. Weitere Unterstützerinnen sind die rund 300 Mitglieder des Vereins, die Loterie Romande und die Stadt Fribourg. Die Fondation Cérébral finanziert immer wieder einzelne Projekte, wie etwa die Produktion der eigenen Siebdruck-T-Shirt-Serie.
Apropos Verkäufe: Pascal Vonlanthen, 62, der seit Anfangstagen bei Creahm ist und sich heute nach der Mittagspause im Malerkittel an ein neues Werk heranwagt, hat es mit seiner Kunst sogar schon bis nach New York geschafft. Nachdem der Bauernsohn zu Beginn oft Sujets malte, die ihn auf dem elterlichen Hof umgeben hatten, Kühe etwa, stellte Capeder vor ein paar Jahren beinahe zufällig fest, dass Vonlanthen da und dort auch eine Kunstschrift anwendete, die dem Zickzackstich einer Nähmaschine oder einem Strickmuster ähnelte.
Er forderte ihn auf, diese Technik weiterzuverfolgen und legte ihm auch eine Zeitung zur Inspiration hin. Daraufhin startete der Analphabet mit seiner eigenen Schrift auf dem Papier und in der Realität durch.
Nach einer Ausstellung in der Kunsthalle Fri Art in Fribourg im Jahr 2015, begeisterte Vonlanthens rhythmisierte Kunstschrift den New Yorker Designer Jason Wu, der Michelle Obama zu seinen Kundinnen zählt. Sein Modelabel erwarb das Copyright von vier Œuvres Vonlanthens, die später in Wu’s Frühjahrskollektion 2017 einflossen. «Die Entwicklung, die Pascal seit 1998 gemacht hat, ist unglaublich», sagt Capeder. «Und er probiert auch immer wieder Neues.»
Letztes Jahr feierte das Atelier seinen 20. Geburtstag. Neben einer grossen Ausstellung im Innovationspark Bluefactory in Fribourg machte Creahm 21 Originalkunstwerke in Plakatform im öffentlichen Raum dem Publikum zugänglich.
Am Tag unseres Besuches hält sich auch der Künstler, Musiker und Grafiker Janosch Perler im Atelier auf, dessen Onkel, Ivo Vonlanthen, der Gründer von Creahm ist. Janosch Perler arbeitet im Rahmen des Projekts «Fuori-Dentro», in dem Künstler von hier mit externen Kunstschaffenden eine gemeinsames Werk schaffen, an einer Plakatserie für den Musikklub Bad Bonn in Düdingen.
Léonard Périès’ verschachtelte Wesen sind von einer Vorlage im Linoldruck-Verfahren auf einem Plakat verewigt worden. Auch die Infos zum Konzert wurden von Périès gestaltet. Am Projekt gereizt hat Perler neben dem Austausch mit den Creahm-Kunstschaffenden das Spontane und Flüchtige im Entstehungsprozess. «Es ist ein Herantasten, das Geduld fordert, aber auch sehr spannend und experimentell ist.»
Um 16 Uhr schicken sich Géraldine Piller, Léonard Périès, Pascal Vonlanthen und die anderen an, das Atelier im Gebäude mit dem schrägen Dach zu verlassen. Die Konzentration, die vorher den Raum bestimmte, kippt beinahe in helle Aufregung um. Sie verabschieden sich herzlich, lachen, drücken Hände und wirken wie eine verschworene Gemeinschaft, die sich auch ohne viele Worte versteht.
Es genügen ihnen oft Gesten, Blicke, ein paar liebevolle Witzeleien zwischendurch. Und ihre Kunstwerke, in denen sie in einem unbändigen Schaffensdrang die Rekonstruktion ihres Universums vorantreiben. Akribisch, dicht, banal, bunt, rhythmisch, überbordend, kraftvoll, sensibel. «Motivieren», sagt Atelierleiter Gion Capeder, «müssen wir hier niemanden. Die Angst vor dem weissen Blatt Papier kennen unsere Künstlerinnen und Künstler nicht.»
www.creahm.ch
Verfasserin: Judith Wyder, ch-intercultur
(SDA)