Für einen Spaziergang nach dem Mittagessen ist Romedi Arquint gerne zu haben. Er führt durch seinen Wohnort Cinuos-chel, einer Fraktion der Engadiner Gemeinde S-chanf. Der Blick auf die Zwei- und Dreitausender vor dem makellosen Oberengadiner Himmel bringt ihn aber nicht ins Schwärmen. «Die Berge haben die Engländer erfunden», sagt er und lacht. «Mir versperren sie den Horizont.» Freie Sicht aufs Mittelmeer wäre ihm wohl lieber.
Aufgewachsen ist Arquint in der nahe gelegenen Gemeinde Zernez. Schon damals hat er die Bergwelt als eng empfunden. «Ich war eingesperrt in die Vorstellung meiner Umwelt, wie ich zu sein hatte.» Um dieser Enge zu entgehen, hat er viel gelesen, schon in der zweiten Klasse. «Lesen war wie eine Droge», sagt er. «Mit dem Lesen konnte ich mir eine eigene Welt einbilden, ich konnte sie erschaffen.» Tiere in den Büchern seien ihm viel wichtiger gewesen als Tiere in der Natur.
Mit dem Lesen ist Arquint zum Sprachliebhaber geworden. Diese Liebe hat ihn nie verlassen. Es ist die Liebe zu vielen Sprachen, zu Sprachen überhaupt. Sie bilden für ihn das Herz des menschlichen Lebens. Sprache als sozialer Kitt, nicht als Abgrenzung, das interessiert Arquint, Darüber hat er auch ein Buch geschrieben: «Plädoyer für eine gelebte Mehrsprachigkeit". Seine politische Quintessenz: «Sprachgrenzen sollten verschwinden. Keine Sprache sollte den anderen Sprachen übergeordnet sein.»
Und wie ist das in der Schweiz? Hier passiere genau das Gegenteil, so Arquint. «Die Kantone haben die Sprachhoheit, und sie führen sich auf wie Bildungsnationalisten.» Das Territorialitätsprinzip - Kantonssprache zuerst - behindere das sprachliche Zusammenleben und sei «ein Ärgernis sondergleichen".
Mit dieser Einschätzung schwimmt Romedi Arquint gegen den Strom. Dies obwohl er von Seiten des Bundesamtes für Kultur (BAK) indirekt Schützenhilfe bekommt. «Die Mehrsprachigkeit ist ein prägendes Merkmal unseres Landes», schreibt die BAK-Direktorin Isabelle Chassot in der Zeitschrift «Babylonia» (1/2018).
Die vier Sprachen müssten sich entwickeln können und «im lebendigen Austausch» sein. Integrieren müsse die Schweiz aber auch Migrationssprachen. «Die Anerkennung dieser Realität ermöglicht es, sprachliche und kulturelle Grenzen zu überwinden und als Gesellschaft die Zukunft zu gestalten.»
So weit die Theorie. Chassot ist sich bewusst, dass sie damit nicht nur auf offene Ohren stösst. «Mehrsprachigkeit ist ein bewusstes Streben, das niemals ganz erfüllt ist und stets zur Diskussion steht», schreibt sie. Und weiter: «Der Schutz der Mehrsprachigkeit erfordert fortwährend neues Engagement der politischen Behörden und der Institutionen unseres Landes.»
Und hier haperts, ist Romedi Arquint überzeugt. «Mehrsprachigkeit ist in der Schweiz ein Mythos, oder, wie es Dürrenmatt ausdrückte, 'ein ungeheures Gerücht'.» Als Beispiel nennt er Fribourg. «Der Kanton hat keine zweisprachigen Schulen, obwohl er zweisprachig ist. Das ist politische Ideologie.»
Was wäre die Alternative? Die Kantone müssten Brücken bauen, so Arquint. Vor allem in den Schulen. Ein Aufenthalt in anderen Sprachregionen müsste obligatorisch sein. Wichtig wäre, dass die Schülerinnen und Schüler die Welt anderer Sprachen wirklich erleben könnten. «Sie müssen sich nicht nur schulisch, sondern auch menschlich näher kommen.»
So liesse sich das gegenseitige Verständnis fördern, Fremdsprachen würden zu Nachbarschaftssprachen. «Die Fäden spannen sich kreuz und quer durchs ganze Land. Lustvoll, emotional. Das wäre meine Schweiz.»
Neben dem Schüleraustausch verlangt Arquint von der Politik auch, dass Kinder ihre Sprache ausserhalb ihrer angestammten Territorien lernen können. Zur Erhaltung des Rätoromanischen etwa wäre der Unterricht in Zürich dringend nötig, «lebt hier doch die grösste romanische Gemeinde".
Für diesen Unterricht also sollten die Kantone zuständig sein. «Aber eben: Das kostet, und deshalb passiert es nicht.» Noch nicht. Arquint spricht von einer Vision, die immerhin langsam zum Thema wird. «Vielleicht sind die bedächtigen Schweizer Kantone in 50 Jahren soweit.»
In die Verantwortung nimmt Arquint auch den Bund. Isabelle Chassot erkläre sich zwar bereit, Mittel für die Erhaltung des Romanischen und Italienischen zur Verfügung zu stellen. Arquint verlangt aber mehr als «nur schöne Worte". «Der Bund müsste einen Topf in Millionenhöhe einrichten. Nötig sind finanzielle Anreize für die Kantone zur Belebung der gegenseitigen Verständigung.»
Der 1943 geborene Romedi Arquint ist Rätoromane, der sich für Sprachen und Kultur, aber auch für politische Alternativen ins Zeug legt. Als Pfarrer in Bivio predigte er romanisch, italienisch, deutsch. Als Lehrer in Zuoz und Samedan unterrichtete er Romanisch und Philosophie. Während zwölf Jahren war er der erste sozialdemokratische Engadiner Grossrat.
Er war auch Gemeindepräsident in S-chanf sowie Präsident der Lia Rumantscha und der Föderalistischen Union der Europäischen Volksgruppen (FUEV).
1981 wurde Arquint, so seine Worte, «auf einer proromanischen Welle» ins Bundesamt für Kultur berufen. Dort befasste er sich mit sprachlichen Minderheiten, insbesondere mit dem Romanischen und mit der Frage, «wie das Geld des Bundes in den romanischen Gebieten eingesetzt werden kann".
Im Europarat in Strassburg hat Arquint für die Schweiz an der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen mitgearbeitet. Er vertrat zudem die Jugendarbeit des Bundes auf europäischer Ebene. Dabei merkte er, dass die Schweiz in diesem Bereich für die internationale Verständigung herzlich wenig tat. «Damals wurde mir die Igelhaltung der Schweiz sehr bewusst.»
Aktuell ist Arquint bei der Schweizer Stiftung Convivenza, dem Internationalen Zentrum für Minderheiten, tätig, schreibt für die Zeitschrift „Babylonia“ und setzt sich so weiterhin ein «für eine mehrsprachige und multikulturelle, offene und tolerante Gesellschaft".
Immer wieder reist Romedi Arquint nach Dänemark, ins Land seiner verstorbenen Frau. Dort liebt er «die Sprache, die Erinnerung, die Weite der Landschaft, des Meeres und des Himmels», aber auch «eine Streitkultur, die zwischen Person und Sache unterscheidet, die lösungsorientiert und nicht rechthaberisch denkt und handelt".
Mit diesem Anspruch stösst Arquint im Engadin an harte Grenzen, wie er betont. Gleichwohl ist er «in gelassener Stimmung» hier geblieben - wegen der verschiedenen Sprachen, der Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit seiner Familie, aber eben auch wegen seiner Lust, «sich einzumischen und gegen erstarrte Fronten zu kämpfen".
Verfasser: Karl Wüst, ch-intercultur
(SDA)