Eine Polemik gegen Serien jeder Art
In der Kürze liegt die Würze

Gedichte, Kurzfilme oder Zwei-Minuten-Songs: Die Miniformate lassen sich schnell konsumieren, sind qualitativ oft besser als lange Produktionen und schaffen Zeit für mehr Abwechslung. Eine Polemik gegen Serien aller Art.
Publiziert: 14.01.2020 um 17:40 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 10:57 Uhr
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Bekamen 1932 den ersten Oscar für einen Kurzfilm: Stan Laurel und Oliver Hardy in «The Music Box».
Foto: Getty Images
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Und weiter gehts: Seit letztem Dienstag läuft die zweite Staffel der Schweizer Fernsehproduktion «Wilder» auf SRF1, in den Buchhandlungen reissen sich alle um «Opfer 2117 – der achte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q» des dänischen Bestseller-Autors Jussi Adler Olsen (69), und «The Rise of Skywalker», Episode 9 der «Star Wars»-Saga, macht in Kinos gross Kasse.

Uff! Da geht einem nur schon beim Lesen beinahe der Atem aus.

Welche Ausdauer brauchts da erst, will man all diesen Film- und Buchveröffentlichungen hinterherhecheln, um inhaltlich auf dem Laufenden zu sein? Egal, die Menschen mögen TV-Serien, Fortsetzungsromane sowie Sequels (Weiterführungen) und Prequels (Vorgeschichten) von Kinohits wie kaum je zuvor. Es sind alternative Realitäten zu ihren Wirklichkeiten, und sie wollen sehen, wie es mit ihrer Identifikationsfigur weitergeht.

«Getretner Quark wird breit, nicht stark»

Mehr als 600 Folgen gibt es bis heute von der Zeichentrickserie «Simpsons», 16 Staffeln von der Spitalreihe «Grey’s Anatomy» und Abertausende Seiten literarischer Vorlage für «Game of Thrones». Denn als wären sie kleine Kinder, sagen die Zuschauer unermüdlich: «Nochmals! Nochmals!» Und bekommen zuweilen tatsächlich das Gleiche erneut erzählt.

Die Qualität wird nämlich nicht zwangsläufig besser, je länger man eine Geschichte ausdehnt. Das zeigt sich auch beim Versuch, aus jeder möglichen Episode von «Herr der Ringe» ein neues Filmprojekt zu quetschen. Wie sagte schon der deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832): «Getretner Quark wird breit, nicht stark.» Und der Volksmund doppelt nach: «In der Kürze liegt die Würze.»

Weshalb dauert es trotzdem Jahrzehnte, bis die Macher der «Lindenstrasse» ein Einsehen haben und am kommenden 29. März der TV-Serie nach 1758 Folgen ein Ende setzen? Das quengelnde Publikum hat schon lange nicht mehr «Nochmals!» gerufen – schalteten 1988 über zehn Millionen auf ARD, um die «Lindenstrasse» zu sehen, waren es 2018 kaum mehr zwei Millionen.

Zwar sind Speicherkapazitäten durch Daten-Clouds heute schier unbegrenzt und setzen Produktionen nicht mehr wie die früheren Trägermedien Kassetten oder Disketten ein Ende – die CD war in ihrer Urform auf 74 Minuten ausgelegt, weil man Furtwänglers Einspielung von Beethovens Neunter Symphonie unbedingt auf eine einzige Silberscheibe bringen wollte.

Kurzferien machen glücklicher

Aber trotz technischer Fortschritte hinkt der Mensch hinterher. Einerseits fordern immer mehr Produktionen seine Aufmerksamkeit und überfordern ihn letztlich, andererseits ist ihm durch den Tod eine Aufnahmegrenze gesetzt. Da stellt sich schnell einmal die Frage: Widme ich meine kostbare Zeit wenigen langen Serien oder will ich stattdessen mannigfaltige kurze Kulturaspekte erfahren?

Mehr Kürze, weniger Länge – die Richtigkeit dieser Formel zeigt sich beispielhaft bei der Ferienplanung. Britische Marktforscher fanden heraus: Wer gerade einen Urlaub plant, ist insgesamt glücklicher und bewertet seine allgemeine Lebenssituation positiver als Menschen, die keine Reise planen. Somit erzeugt der einmalige, einmonatige Urlaub nur einen Viertel des Glücks, den vier wöchige Kurztrips über das Jahr verteilt hervorrufen.

Die kleine Form sollte wieder mehr Schule machen. Im Unterricht sollte man häufiger Gedichte, die Kurzstrecke unter den literarischen Formen, auswendig lernen – auch das macht glücklich. Es muss ja nicht immer Schiller oder Goethe sein. Ein lyrisches Kleinod von Robert Gernhardt (1937–2006) gefällig: «Ich leide an Versagensangst, / besonders wenn ich dichte. / Die Angst, die machte mir bereits / manch schönen Reim zuschanden.»

Oder wie wäre es, sich einen Geistesblitz des deutschsprachigen Aphorismus-Erfinders Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) zu merken: «Er schliff immer an sich, und wurde am Ende stumpf, ehe er scharf war.» Oder diesen: «Acht Bände hat er geschrieben. Er hätte gewiss besser getan, er hätte acht Bäume gepflanzt oder acht Kinder gezeugt.»

Bonmots sind mentale Bonbons

Ob das in hellsichtiger Vorausschau auf den eingangs erwähnten achten Krimi um Vizekriminalkommissar Carl Mørck von Adler-Olsen gemünzt ist? Aber nein, dann wäre Lichtenberg ja reich geworden, denn wie schreibt er an anderer Stelle in einem seiner «Sudelbücher»: «Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben in der Welt, aber nicht vom Wahrheit sagen.»

Solche Bonmots wirken wie mentale Bonbons – man kann gedanklich an ihnen lutschen und sie im Kopf hin und her wälzen. Und bei geselliger Gelegenheit lassen sie sich zum Besten geben und erfreuen die Runde. Denn schon der spanische Dichter Miguel de Cervantes (1547–1616) wusste: «Fasse dich kurz, denn Reden, die nicht enden wollen, gefallen nicht.»

Kürze ist prägend: Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809–1849) erschuf mit Kurz- und Kürzestgeschichten wie «The Fall of the House of Usher» (1839), «The Oval Portrait» (1842) oder «The Black Cat» (1843) Weltliteratur. Und die kanadische Autorin Alice Munro (88) erhielt 2013 für ihre Short Stories sogar den Literaturnobelpreis.

Bis heute eine Ikone ist der erste mit einem Oscar ausgezeichnete Kurzfilm «The Music Box» von 1932. Stan Laurel (1890–1965) und Oliver Hardy (1892–1957) schleppen eine Holzkiste mit einem Klavier darin 131 Stufen einer schnurgeraden Treppe hoch – und drei Mal schlittert das Teil runter, eine viertes Mal tragen sie es selber hinunter. Eine 28-minütige Gaudi!

Spotify drängt Musiker wieder zur Kürze

Mit nur drei, vier Bildern bringen uns Comic-Künstler wie Charles M. Schulz (1922–2000, «Peanuts») oder Jim Davis (74, «Garfield») zum Lachen. Die deutschen Zeichner Elias Hauck (41) und Dominik Bauer (41) führen diese althergebrachte Technik des Comicstrips in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» erfolgreich in die Gegenwart.

Ein richtiggehendes Revival erlebt zurzeit der kurze Song, ein Markenzeichen der frühen Beatles und später der Ramones – und das ausgerechnet wegen der neuen Streamingdienste wie Spotify. Untersuchungen haben nämlich gezeigt: Alleine in den fünf Jahren zwischen 2013 und 2018 schrumpften Songs durchschnittlich um 20 Sekunden – von 3 Minuten 50 Sekunden auf 3 Minuten 30 Sekunden.

Das hat einen einfachen Grund: Spotify zahlt Musiker pro Komposition. Da ist es lohnender, ein Album mit mehreren kurzen Liedern zu bestücken als mit wenigen langen. Dass diese Strategie der musikalischen Qualität keinen Abbruch tut, beweisen aktuelle Lieblingssongs auf Spotify Schweiz wie Billie Eilishs «Bad Guy» (3:14), Ed Sheerans «Beautiful People» (3:17) oder Lo & Leducs «079» (3:24).

Die Qualität nimmt sogar zu, denn Kürze ist eine Kunst, in der meist mehr Arbeit steckt. Wie schrieb schon der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) in einem Postskriptum eines rund 40-seitigen Briefes: «Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich keine Zeit hatte, ihn kürzer zu machen.»

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