Die Verse des polnischen Dichters waren zwar bereits anderthalb Jahre zuvor entstanden. Doch dann trafen sie den Nerv einer verwundeten Stadt.
«Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen» hiess es darin, und später am Ende: «Besinge die verstümmelte Welt/ und die graue Feder, die die Drossel verlor,/ und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet/ und wiederkehrt.» Zagajewski zählte zu dem Zeitpunkt bereits zu den wichtigsten Vertretern der polnischen Gegenwartsliteratur. Doch dieses Gedicht brachte ihm den internationalen Durchbruch. Nun ist Adam Zagajewski im Alter von 75 Jahren gestorben.
Möglicherweise sei es die Bewegung zwischen dem Bild der Vernichtung und der bescheidenen Hoffnung gewesen, die einigen Lesern geholfen habe, sagte Zagajewski im vergangenen Jahr im Gespräch mit der dpa über den Erfolg seines berühmtesten Gedichts.
Der Verlust einer Welt, die es in dieser Form nie wieder geben wird, das mit diesem Verlust verbundene Gefühl der Unbehaustheit - das sind Leitthemen in vielen Werken Zagajewskis. Sie hängen auch mit seiner Biografie zusammen. Zagajewski wurde im Juni 1945 in Lwiw (Lemberg) in der heutigen Ukraine geboren. Kurz darauf wurde er mit seiner Familie vertrieben - im Rahmen der Zwangsumsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Polens. Wie viele andere landete Zagajewskis Familie im schlesischen Gleiwitz. Also dort, wo zuvor die deutsche Bevölkerung vertrieben wurde.
Lemberg gehörte seit dem Mittelalter zu Polen, wurde Ende des 18. Jahrhunderts der K.u.k.-Monarchie zugeschlagen und ging nach dem Ersten Weltkrieg wieder an Polen. Im Jahre 1939 fiel die Stadt infolge des Hitler-Stalin-Pakts unter die sowjetische Besetzung Ostpolens, wurde 1941 von den Deutschen eingenommen und später schliesslich wieder von der Sowjetunion. Bis zum Zweiten Weltkrieg ein multikultureller Ort, bewohnt von Polen, Deutschen, Ukrainern, Juden und Armeniern.
Für Zagajewski ist diese Stadt ein Sehnsuchtsort, mythenumwoben durch die Erzählungen seiner Familie. «Es gab zu viel Lemberg, und jetzt gibt's die Stadt überhaupt nicht», heisst es in dem Gedicht «Nach Lemberg fahren», in dem das Ziel nie erreicht wird. «Warum muss jede Stadt zum Jerusalem werden und jeder Mensch zum Juden, und jetzt nur in Eile packen, ständig, täglich packen und atemlos fahren nach Lemberg.»
Das ungeliebte industrielle Gleiwitz verlässt Zagajewski, um in Krakau Psychologie und Philosophie zu studieren. Im Jahr 1967 debütiert er in dem Heft «Zycie Literackie» mit dem Gedicht «Musik». Er gehört zu den Vertretern eines neuen Realismus in der polnischen Dichtung. 1975 unterzeichnet er den «Brief der 59», mit der Intellektuelle gegen eine Verfassungsänderung protestieren, die die Position der Kommunistischen Partei stärken soll. Nach der Verhängung des Kriegszustands in Polen geht Zagajewski 1982 ins Exil nach Paris, später in die USA. Seit 2002 lebte er mit seiner Frau wieder in Krakau, er lehrte regelmässig an der University of Chicago.
Für seine Werke wurde Zagajewski vielfach ausgezeichnet. So erhielt er den Prinzessin-von-Asturien-Preis (2017), den Heinrich-Mann-Preis (2015), den Eichendorff-Literaturpreis (2014) sowie den Neustadt International Prize of Literature (2004), der in Amerika als «kleiner Literatur-Nobelpreis» gilt. Auch für den Nobelpreis selbst war Zagajewski immer wieder im Gespräch.
Im Jahr 2019 erschienen von ihm auf Polnisch zwei Bücher: Der Gedichtband «Das wahre Leben» (Prawdziwe zycie) und die Essaysammlung «Die ungeordnete Substanz» (Substancja nieuporzadkowana). In deutscher Übersetzung soll im Hanser Verlag am 21. April der Essay-Band «Poesie für Anfänger» erscheinen.
Zuletzt arbeitete Zagajewski an einem neuen Gedichtband sowie an einem Buch mit Essays über den polnischen Maler Jozef Czapski. Bei seinem polnischen Verlag A5 geht man davon aus, dass beide Bücher veröffentlicht werden. Am Sonntag ist Adam Zagajewski in Krakau gestorben.
(SDA)