Unschuldige Mädchen wurden hier an einem einzigen Abend um Ruf, Ehre und den Glauben an die wahre Liebe gebracht. Und einen mir persönlich bestens bekannten Mann fand man vor Jahren nur unweit des Haupteingangs schlafend am Boden liegend. Mitten im Winter, nur noch mit einer Unterhose bekleidet und dem Erfrierungstod nahe. Wie er sich in diese äusserst missliche Lage gebracht hatte? Er vermochte es beim besten Willen und trotz grösster Anstrengungen nicht mehr zu sagen.
Willkommen in der Bolgenschanze, Skistrasse 1, 7270 Davos GR. Drei Bartresen und eine Tanzfläche im Parterre, Toiletten und Garderobe in den Katakomben, 72 Hotelbetten mit 3600 Logiernächten im Obergeschoss. Jetzt ist es halb drei Uhr morgens, ein Samstag, und die Schanze seit zwei Stunden zum Bersten voll. 450 Teenager tanzen, schreien, schwitzen, rauchen, saufen, lieben oder hassen sich. Die Gäste sind blutjung, tätowiert, gepierct, behangen und natürlich wahnsinnig cool.
500 Liter Bier machen sie hier zusammen an einem Abend weg, die Stange zu Fr. 4.50. Dazu Wodkas, Gins, Cuba Libres und Speedballs, jene magenverachtende Kombination aus Jägermeister und Red Bull, bei der ein Gläschen Jägermeister in ein Glas Red Bull fallen gelassen und beides auf ex, mit einem Schluck, getrunken wird. Jenny, 19, ist kaufmännische Angestellte in Ausbildung, aus Zürich, zu dünn, müde und schwer betrunken. Sie trägt, wie fast alle hier, T-Shirt, Jeans, Turnschuhe, Wollmütze und einen Schal, der jetzt streng säuerlich riecht. Jenny ist mit ihrer Berufsschulklasse hier, drei Tage und zwei Nächte Davos, sich auch mal ausserhalb der Schule kennenlernen. Sonne, Snowboard, Bolgenschanze.
Den Abend hat sie sich anders vorgestellt. Nicht nur, weil sie jetzt merkt, dass sie ihren Zimmerschlüssel fürs Hotel verloren hat und der junge Mann an ihrer Seite das als Aufforderung missdeutet, dass man die Nacht also bei ihm verbringe. Bei ihm, mit ihm. Jennys Freundinnen sind irgendwie verschwunden, eine «mit diesem Arsch, der mich gestern den ganzen Abend angemacht hat». Aber: Gestern ist in der Bolgenschanze eine lange Zeitspanne und Tradition verpflichtet: Teile der Bar, Decken- und Wandleuchter sollen schliesslich aus dem alten Moulin Rouge von Paris stammen. «Sollen» darum, weil hier selten jemand etwas ganz genau, dafür fast jeder irgendetwas zur Bolgenschanze weiss. Zum Beispiel, dass in der Notaufnahme der Davoser Klinik das «Bolgenschanzen-Syndrom» ein fester Begriff gewesen sein soll. Diagnostiziert bei jungen Männern, die in den frühen Morgenstunden mit irrwitzig hohen Blutalkoholwerten und unerklärlichen Rissquetschwunden auftauchten ...
Gewiss: Legenden, Mythen und Sagen sind in der Bergwelt nichts Ungewöhnliches und die Bolgenschanze ist da keine Ausnahme. Immerhin gilt sie als die Snowboard-Bar schlechthin, als Mutter aller Verlockungen, als Inbegriff feuchter Teenagerträume. Sex, Drogen, Bolgenschanze. Die heilige jugendliche Dreifaltigkeit. Entweder man kann mitreden oder nicht.
KV-Lehrtochter Jenny hat ihre Schlüssel noch immer nicht finden können und keine ihrer Freundinnen antwortet auf ihre SMS. Der Typ von eben hat aufgegeben, ist verschwunden, versucht sein Glück bei einer anderen, so wie es jetzt ein anderer bei Jenny versucht. Das heisst: dieselbe Leier nochmals … Wo kommst du her, wie lange bist du schon hier, hast du einen Freund, was magst du trinken? Aus Zürich, seit zwei Tagen, nein, dann halt ein Bier.
Fast hundert Jahre ist sie alt, die Bolge, die Schanze, oder die Bolgenschanze, wie die schweizweit berühmt-berüchtigte Bar in Davos offiziell heisst. Der erste Grundbucheintrag findet sich 1924, als ein Hans Fopp die Liegenschaft «Zur Eintracht» ersteigerte. Dann ein paar schnelle Besitzerwechsel und 1993 schliesslich der Kauf durch die Davos Klosters Bergbahnen, in deren Besitz sich die Schanze heute befindet. Einst Restaurant für die, die sich vom Bolgen todesmutig die Schanze heruntergestürzt hatten und nach ihrem Flug ein, zwei oder ein paar Bier brauchten, dann kurz gefürchtete Drogenhöhle und seit den späten Achtzigern das, was sie bis heute geblieben ist: die legendäre Bolgenschanze.
Was die Schanze zu dem gemacht hat, was sie ist oder sein soll, vermag nicht einmal mehr Patrick «Strampi» Campolongo, 33, zu sagen. Und der arbeitet immerhin schon die 13. Saison in der Bar, hat den rasanten Aufstieg der Bolgenschanze hautnah und am eigenen Leib miterlebt. Die goldenen, üblen, wüsten, dreckigen und legendären Jahre seien vorbei, sinniert «Strampi». Vorbei seit 1994/95, schätzt er. An der Bar hatten damals viele Australier gearbeitet, richtig harte Trinker, harte Snowboarder und harte Party-Macher. Bis fünf, sechs Uhr morgens gearbeitet und gesoffen, ein, zwei Stunden geschlafen und dann wieder aufs Brett. Tagein, tagaus.
Heute sind viele der zwanzig Angestellten Deutsche. Fast so billig wie die Australier – aber mit stark eingeschränktem Alkoholkonsum. Wie Türsteher Volker, 28, aus Bitterfeld. Seine Aufgabe: für Ruhe und Ordnung sorgen. Erlaubt ist in der Schanze alles, sagt man hier gerne. Bis auf das, was Volker seiner munteren Kinderschar verbietet: Kiffen, Schlägereien und Sex in öffentlichen Räumen. Was allerdings selten genug vorkommt. Tatsächlich bleibt es meist ruhig wie in einer Altersresidenz, wenn «Benissimo» im Fernsehen läuft; gekifft wird brav vor der Tür, und warum einer der drei Bartresen «Schweinebar» heisst, wissen die Kids nicht mal mehr vom Hörensagen: Für den Namen verantwortlich zeichnen – natürlich – die Australier, die herausgefunden hatten, dass Barhocker, Bartheke, Mann und Frau irgendwie im magischen Höhenverhältnis zueinander standen. Mit andern Worten: weil sich auf der Bar perfekt paaren liess und das auch ausgiebig praktiziert wurde.
Heute sind solche Szenen selten geworden. Auch wenn man davon ausgehen könne, so Daniel Weinmann, dass in der Schanze immer noch alles gemacht werde, was 18-Jährigen gerade so in den Sinn komme. Daniel Weinmann ist 26, seit zehn Jahren im Geschäft und so was wie der Geschäftsführer der Bolgenschanze. So was wie der Geschäftsführer darum, weil die Hierarchien hier fliessend wie Käsefondue sind. Irgendwann fangen die Leute zu arbeiten an, viele an der Bar, viele nur für eine Saison. Die, die bleiben machen im nächsten Jahr einfach was anderes, Daniel jetzt also den Geschäftsführer. Würde er nicht selber ab und zu hinter dem DJ-Pult stehen und auflegen, man könnte ihn für einen jungen Banker oder Versicherungskaufmann halten.
Was 18-Jährigen in den Sinn kommt? Nicht mehr allzu viel. Die Bolgenschanze ist brav geworden. Sogar die, die mit einem Hausverbot belegt sind, lassen sich laut Türsteher Volker an einer Hand abzählen. Was für eine Bar wie die Bolgenschanze nicht wirklich imagepflegend ist. Schliesslich lebt sie genau wie die Hells Angels von einem: ihrem schlechten Ruf.
Halb vier Uhr, die Musik ist laut, der Amüsierdruck gross, in eineinhalb Stunden schliesst die Schanze. Wer bis jetzt noch alleine ist, für den stehen die Karten schlecht, ganz schlecht, der wird alleine ins Hotel gehen, alleine aufs Zimmer, alleine ins Bett und nach der gültigen Teenagerlogik vielleicht ein ganzes Leben lang alleine bleiben. Mancher setzt jetzt alles auf eine Karte, hängt sich nochmals voll rein und scheitert umso grausamer an einer der Melanies, Tamaras oder Rahels, die jetzt auch nicht mehr so recht wollen. Traurige Teenager trinken traurige Drinks und starren auf ihre traurigen Handys, die jetzt keinen Pieps mehr von sich geben.
Immerhin: Alles klebt. Kleidung, Fussböden, Wände, Decke, Vorhänge, Lampenschirme, der Verstand. Alles vollgesogen, eingedampft, imprägniert, durchtränkt. Von Rauch, Alkohol, Schweiss, Tränen, Blut, jedem Saft, der den menschlichen Körper zu verlassen vermag. Oder eben: zu verlassen vermochte. Durchtränkt von den Erinnerungen an die Bolgenschanze, wie sie mal gewesen sein musste.
Früher Morgen. Drei junge Männer reiben draussen schwarzes Haschisch in einen Joint. Es ist kalt und Jenny hat genug. Von der Bolgenschanze, vom Bier und von den Jungs, die morgen doch eine andere wollen. Sie ist alleine, der Typ von vorhin irgendwo, ihren Zimmerschlüssel hat sie noch immer nicht finden können. «Scheissegal», sagt sie. Und verschwindet im Morgengrauen.