Er hat Geschichte geschrieben: Bill Wyman (82) revolutionierte mit den Rolling Stones die Musik. Dann hatte er plötzlich keine Lust mehr und verliess die grösste Rockband der Welt. Warum hat er das bloss getan?
BLICK: Sie sind 82 Jahre alt, Mister Wyman. Erinnern Sie sich an den Beginn Ihres Lebens?
Bill Wyman: Oh ja. Der war wenig erfreulich. Ich erinnere mich an die Bomben, die auf meine Heimatstadt London fielen. Und an die eisernen Rationen. Als Kind war ich immer hungrig.
Erzählen Sie.
Ich sah das Artilleriegefecht, ich sah die Raketen, sie landeten zwar nicht auf unserer Strasse, aber auf der Strasse nebenan. Ich rannte in unser Haus und versteckte mich. Als ich ein paar Minuten später wieder rauskam, waren zwölf Häuser verschwunden und alle Bäume und Sträucher in der ganzen Nachbarschaft geschreddert. Es war ein Albtraum.
Und die Rationen?
Es gab keine Früchte, kaum Fleisch. Wir mussten Löwenzahn essen. Manchmal wurde Walfleisch verteilt. Es war wie eine Offenbarung, als ich nach Kriegsende – ich war zehn – erstmals eine Banane in den Händen hielt. Oder Schokolade, das war wie pures Gold!
Wie hat Sie diese Zeit der Entbehrung geprägt?
Weil wir so wenig zu essen hatten, sind wir alle sehr klein geraten. Das ist wirklich wahr: All die alten Jungs von früher sind noch heute kleine Kerle, höchstens 1,70 Meter gross. Der Krieg hat mich aber natürlich auch im Kopf geprägt: Ich war in meinem späteren Leben immer sehr vorsichtig, weil ich genau wusste, wie vergänglich alles ist.
Konkret?
Ich hasse es beispielsweise noch immer, wenn meine Frau Essen schon zwei Tage nach dem Ablaufdatum wegwirft. Dieses Gefühl habe ich nicht nur bei Lebensmitteln, auch bei Kleidern. Arm zu sein, ist eine Erfahrung, die man nie mehr vergisst.
Demnächst kommt Ihr Dok-Film «The Quiet One» in die Kinos. Darin zeigen Sie sich von Ihrer intimsten Seite. War es nicht schwierig, sich derart verwundbar zu geben?
Nein, das war nötig. Ich wollte keinen weiteren Dok-Film über die Rolling Stones drehen, davon gibt es schon genügend. Mein Film handelt von meinem Leben, dazu gehören auch Misserfolge, der Krieg, Scheidungen. Auf eine Angeber-Biografie, in der alles geschönt wird, hatte ich null Lust.
Der Film enthüllt, dass Sie ein schon fast obsessiver Sammler sind. Was ist Ihr wertvollstes Stück?
Schwer zu sagen, meine Sammlung beinhaltet inzwischen mehr als 25’000 Raritäten. Ich kann mich nur schlecht von Dingen trennen, das hat wohl auch mit dem Krieg zu tun. Ziemlich wertvoll sind meine beiden Dreidimensional-Kopien unseres Albums «Their Satanic Majesties Request» von 1967. Davon existieren nur drei Stück.
Wie lebendig sind Ihre Erinnerungen an die 60er-Jahre?
Sie sind noch sehr präsent. Wir befanden uns damals im Zentrum eines Hurrikans. Die Kids jagten uns nach den Konzerten, wir waren täglich in den Zeitungen, standen dauernd unter Polizeischutz. Das kann man sich heute fast nicht vorstellen. Die Fans campten monatelang vor unseren Häusern. Unser ganzes Leben wurde kontrolliert, ich konnte mit meinem kleinen Sohn Stephen nicht eine Minute ungestört in den Park spazieren gehen.
Im Gegensatz zu Mick Jagger und Keith Richards haben Sie nie Drogen genommen. Weshalb eigentlich nicht?
Zwei Gründe: Ich verliere nicht gerne die Kontrolle; und ich war älter und bereits Vater, hatte also schon Verantwortung. Mick und Keith hatten das nicht, also feierten sie ununterbrochen Partys. Für meine Familie war es nicht immer einfach.
Wieso nicht?
Ich erinnere mich an einen Nachbar, der meinen Buben einst fragte, wie es mir gehe. Seine Antwort: «Ich weiss es nicht, Daddy lebt in einem Flugzeug.» Da realisierte ich, wie absurd mein Leben eigentlich ist.
Sie blieben den Stones danach noch jahrzehntelang treu. Warum?
Wohl auch aus Angst davor, aus diesem Kosmos auszubrechen. Ich kannte ja kein anderes Leben. Mein Vater nahm mich früh von der Schule, weil wir so arm waren. Er war dagegen, dass ich Musiker wurde. Ich habe mich durchgesetzt und wurde sehr erfolgreich. Da schmeisst man nicht einfach alles wieder hin.
Ihr Vater war sehr streng. Davon erzählen Sie auch in Ihrem Film.
Richtig. Aber so war die damalige Generation. Und die Generation davor war noch strenger. Ich habe meinem Vater längst vergeben, denn er handelte nicht mit böser Absicht. Meine Eltern haben mich nie umarmt, mir auch nie gesagt, dass sie mich lieben. Liebe und Zuneigung gab es in jenen Zeiten nicht. Ich habe erst viel später gelernt, Emotionen zu zeigen. Meine jetzige Frau war mir diesbezüglich eine grosse Hilfe.
Was für ein Vater sind Sie?
Neben meinem Sohn Stephen, der 1962 zur Welt kam, habe ich noch drei Töchter, die alle in den 90er-Jahren zur Welt kamen. Sie erzog ich mit mehr Verständnis und auch Nachsicht als Stephen. Weil ich mich eben auch stark verändert habe. Ich versuche immer, für sie da zu sein. Und ihnen mit Ehrlichkeit beizustehen. Wir sind uns alle sehr nahe.
In den 70ern zogen Sie nach Südfrankreich und lernten den Maler Marc Chagall kennen. Wie hat er Sie beeinflusst?
Er wurde ein guter Freund von mir. Durch ihn erkannte ich wieder, dass man auch in kleinen alltäglichen Dingen Schönheit erkennen kann – eine Blume, ein altes Haus, ein Sonnenuntergang. Das hatte ich in den turbulenten 60er-Jahren, in denen ich geblendet war vom Ruhm und von den vielen extremen Erfahrungen, komplett vergessen. Chagall war sehr wichtig für meine Selbstfindung. Er zeigte mir, wie ungesund es ist, wenn man in Extremen lebt.
1993 verliessen Sie die Rolling Stones. Haben Sie den Entscheid nie bereut?
Keine einzige Sekunde, Gott ist mein Zeuge! 1993 waren die anderen Stones in Irland, um ein Album aufzunehmen. Damit wollten wir die nächsten Jahre wieder auf Welt-Tournee gehen. Darauf hatte ich einfach keine Lust mehr. Ich kam damals wieder mit meiner Ex-Freundin Suzanne zusammen, wir heirateten, bekamen unsere wunderbaren Töchter. Ich wollte bei meiner neuen Familie sein. Mein Ausstieg war wie ein Befreiungsschlag. Es war, als hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen.
Inwiefern?
Mein Privatleben bis dahin war ein Desaster. Ich hatte auch finanzielle Probleme. Das liess ich durch meinen Ausstieg alles hinter mir. Seit ich raus bin, fühle ich mich frei und bin so produktiv wie nie. Seither habe ich neun Bücher geschrieben. Meine Fotos werden überall auf der Welt ausgestellt. Ich betrieb Archäologie, entdeckte römische Stätten, von denen niemand wusste. Ich spielte jahrelang Charity-Cricket, traf dabei jeden bekannten Sportler, den es auf der Welt gibt.
Die Musik haben Sie dennoch nie aufgegeben.
Nein. Mit meiner Band The Rhythm Kings spielen wir noch immer Konzerte. Klar, etwas kleinere als früher, aber nicht weniger erfüllend. Mein Leben ist wirklich sehr reich. Das wäre es nicht, würde ich noch heute für die Stones in die Saiten hauen.
Haben Sie noch Kontakt zu den anderen Stones?
Aber sicher. Wer so lange so viel durchgemacht hat, bleibt ein Leben lang miteinander verbunden. Wir besuchen uns gegenseitig, schicken uns Weihnachtsgeschenke und Glückwunschkarten zum Geburtstag. Die Jungs gehören zu meiner Familie. Das Schöne an unserer Beziehung heute: Es geht nicht mehr ums Geschäft.
Haben Sie noch Träume?
Hunderte! Ich will weitere Bücher schreiben, noch mehr Fotos machen, Lieder komponieren. Und noch mehr Zeit mit der Familie verbringen. Ich bin mir sehr bewusst, dass meine Uhr tickt. Das setzt mich zusätzlich unter Druck. Vielleicht stehe ich deshalb jeden Morgen etwas früher auf. Gestern beispielsweise bereits um halb vier. Das ist allerdings nicht die Regel (lacht).
Was ist sonst noch anders im Alter?
Alles wird gemächlicher. Der Prostatakrebs, an dem ich 2016 erkrankte, ist glücklicherweise verschwunden. Der Arzt meint, ich sei besser beieinander als vor zehn Jahren. Nun ja, ich habe kürzlich endlich auch mit dem Rauchen aufgehört (lacht). Ich gehöre nicht zu den Menschen, die über das Alter jammern. Ich finde das ganz furchtbar.
Weshalb?
Das Alter hat Charme, im Alter liegt viel Schönheit. Letzte Woche ging ich mit vier Freunden Essen. Mit meinen 82 war ich der Jüngste der Runde. Das Alter ist also immer auch subjektiv. Was ich mit Bestimmtheit weiss: Ich werde nichts tun, um das Alter künstlich aufzuhalten. Und das verbiete ich auch meiner Frau.
Ihr Lebensmotto?
Ich bin ein sehr logischer Mensch. Ich habe ein paar Zwangsstörungen, bei mir muss alles immer am richtigen Ort sein. Ich kann nicht mit dem Essen anfangen, wenn Messer und Gabel nicht korrekt neben dem Teller liegen. Auch meine Bücher und Platten sind alle alphabetisch geordnet. Präzision, Pünktlichkeit, Anstand, Freundlichkeit, solche Dinge sind mir wichtig. Aber das ist wohl kein Lebensmotto, oder?
Sie werden nächste Woche in Zürich am Worldwebforum auftreten. Worüber werden Sie sprechen?
Über alles, ich habe keine Geheimnisse. Erzählen kann ich vieles, nicht nur die alten Räubergeschichten mit den Stones. Wobei die meisten davon schon sehr lustig sind. Ich werde vom kleinen Kerl berichten, der während des Zweiten Weltkriegs gross wurde, später die Welt eroberte und irgendwann alles hinschmiss, um ein neues Leben zu beginnen. Und damit verdammt glücklich wurde.
Eine schöne Geschichte.
Ja. Es ist die beste Story überhaupt (lacht).
Bill Wyman ist zu Gast am Worldwebforum, das am Donnerstag, 17. Januar, und Freitag, 18. Januar, in Zürich stattfindet. Mehr Informationen unter worldwebforum.com.
Er war ein Kriegskind, war in den 50er-Jahren auch im Militär. 1962 wurde Bill Wyman Bassist bei den Rolling Stones. 1992 kündigte er an, dass er die Band verlassen werde, allerdings wurde das von den anderen Mitgliedern nicht ernst genommen. «Die Stones verlässt man nur im Sarg – oder man wird rausgeworfen», sagte Keith Richards dazu. Wyman beeindruckte das nicht, 1993 verliess er die Band. Seither betätigte er sich als Fotograf, Buchautor, Gastronom, Archäologe und Archivar der Rolling Stones. Bill Wyman ist in dritter Ehe mit Suzanne verheiratet und hat vier Kinder.
Er war ein Kriegskind, war in den 50er-Jahren auch im Militär. 1962 wurde Bill Wyman Bassist bei den Rolling Stones. 1992 kündigte er an, dass er die Band verlassen werde, allerdings wurde das von den anderen Mitgliedern nicht ernst genommen. «Die Stones verlässt man nur im Sarg – oder man wird rausgeworfen», sagte Keith Richards dazu. Wyman beeindruckte das nicht, 1993 verliess er die Band. Seither betätigte er sich als Fotograf, Buchautor, Gastronom, Archäologe und Archivar der Rolling Stones. Bill Wyman ist in dritter Ehe mit Suzanne verheiratet und hat vier Kinder.