Besonders pikant an Sievers' Text ist der Umstand, dass die 1965 auf der Ostseeinsel Fehmarn geborene und heute in Herrliberg am Zürichsee lebende Autorin im Hauptberuf als Kieferorthopädin arbeitet. Entsprechend ätzte Juror Klaus Kastberger: «Ich habe mich gefragt, was am Montag in Ihrer Praxis los sein wird».
Bei der Jury-Diskussion war spürbar, dass die Kritiker tunlichst den Verdacht vermeiden wollten, sie seien prüde - und deshalb insgesamt recht wohlwollend urteilten. Überzeugt hat die meisten die sachliche, aseptische Sprache: Der Text hörte sich an wie ein Bericht zuhanden einer Akademie.
Für einige war das aber gerade der Kritikpunkt: Sprache und Inhalt seien nicht radikal genug, wurde bemängelt. Ein recht humoristisch wirkende Einstellung zu einem Text, indem es nur so wimmelt von «Schw*****». Der Text sei keine Provokation, sondern erstarre nur in der Pose der Provokation, hiess es. Die Umkehr der Täter-Opfer-Geschlechterrollen sei letztlich nur die Abschrift einer Männerfantasie: eine Zahnärztin, wie sie sich jeder Mann wünscht.
Den stärksten, schier nicht enden wollenden Applaus am zweiten Lesetag erntete die seit 2011 in Wien lebende Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die seit 2014 auch in deutscher Sprache schreibt. In ihrem Text «Frösche im Meer» geht es um einen illegalen Einwanderer, der sich mit einer dementen alten Frau anfreundet und sich um sie kümmert, was für ihn voraussichtlich fatal endet.
«Gut gemacht. Wir sind erleichtert. Endlich Literatur.», eröffnete Nora Gomringer die Jurydiskussion. «Eine ganz einfache Geschichte, die aber sehr kompliziert ist», meinte Insa Wilke. Der Schweizer Juror Stefan Gmünder fand den Text «sehr schön und wahnsinnig gut gemacht. Sehr elegant. Super-Text!»
Auch der Beitrag des Deutschen Bov Bjerg, eine Art Vater-Sohn-Roadmovie, überzeugte durch seine Einfachheit: «Ein spektakulär unspektakulärer Text», fand Insa Wilke. «Das ist für mich ein radikal erzählter Text», lobte Hildegard E. Keller.