Anna will man nicht zur Freundin: Sie ist neurotisch, sie nervt und sie lässt sich von jedem Mann flachlegen. Die Texanerin Jill Essbaum (45) hat für ihren Debütroman ein Expat-Monster erschaffen: Eine verzweifelte Amerikanerin, durch Heirat und Kinder nach Dietlikon ZH verpflanzt, wo eine verbiesterte Schwiegermutter sie spüren lässt, dass sie nicht hierher gehört. Die Protagonistin von «Hausfrau» ist gelangweilt und mit einem CS-Banker verheiratet, sagt Sachen wie: «Die Liebe ist ein Urteil. Ein Todesurteil.» Sie denkt: «Du hattest seinen Schwanz im Mund. Eigentlich ist er gar kein Fremder mehr.»
«Hausfrau» wurde von «The Guardian», «The New York Times», «The Huffington Post» bejubelt. Und jetzt soll Essbaum nach Amerika auch Europa erobern. Ihr erster Stopp: Zürich! Dort liest sie morgen Abend und kehrt damit in die alte Heimat zurück. Essbaum lebte von 2006 bis 2008 wie ihre Anna in Dietlikon. Und das merkt man ihrem Buch an: Penibel beschreibt die Amerikanerin Schweizer Eigenheiten wie die Laugensandwiches vom Brezelkönig oder die Coop-Messer-Märkli.
BLICK: Was haben Sie mit Ihrer Figur Anna gemeinsam – ausser der Traurigkeit?
Jill Essbaum: Anna ist Fiktion. Sie hat vor allem viel Ähnlichkeit mit Madame Bovary: Beide haben einen guten Ehemann – aber sie sollten nicht mit ihnen verheiratet sein. Sie sind sehr komplizierte Frauen. Meine Anna ist keine gute Person, sie scheitert im Leben. Ich will in «Hausfrau» eine Frau zeigen, welche in einer tiefen Isolation lebt, aber selbst Schuld an ihrer Situation trägt. Denn schlechte Entscheidungen bleiben schlecht. Auch wenn sie an einem wundervollen Ort getroffen werden.
Anna füllt die seelische Leere mit viel und hartem Sex. Wie erging es Ihnen?
Ich war ebenso ständig traurig und depressiv – aber das lag nicht an Zürich. Mir erging es wie meiner Figur Anna, welche zum Ende des Buches realisiert: Nicht die Schweiz hat mich unglücklich gemacht, sondern ich mich selbst! Ich realisierte erst später, dass ich durch mehr Offenheit ein grösseres Glück gefunden hätte.
Ihr Buch enthält explizite Szenen, es wird mit «50 Shades of Grey» verglichen.
Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen der deutschen Fassung selbst rot wurde! Auf Englisch klingen die Szenen weniger versext. «Fuck» auf Deutsch klingt nun mal vulgärer.
Wie gut beherrschen Sie denn die deutsche Sprache?
(Auf Deutsch) Mein Deutsch ist nicht sehr gut – ich habe aber die letzten Wochen meine Kenntnisse wieder aufgefrischt.
Jill Essbaums Anna kann kaum Deutsch, sie spaziert durch die Stadt, besucht halbherzig den Deutschkurs in der Klubschule Migros. Ihr Highlight dort: Whiskeyhändler Archie, der bärige Ire mit den grossen Händen, der sie grob «fickt». Gabs den auch in Wirklichkeit? «Nein», wiegelt Essbaum ab. «Meine Klubschule-Klasse war völlig anders.»
Wenn Essbaum heute von ihrem Schreibpult aufblickt, denkt sie an ihr damals so verhasstes Daheim. Überall hängen Fotos aus der Zeit in Zürich. «Ich vermisse das Land», sagt sie. «Meine Jahre in der Schweiz haben mich zu dem geformt, was ich heute bin.»
Als Sie in der Schweiz lebten, waren Sie eine Hausfrau wie Anna, hatten weder Job noch Kinder.
Ich kam mit meinem Ex-Mann in die Schweiz, weil er am C.-G.-Jung-Institut studierte. Ich war sehr introvertiert, fand kaum Freunde. Ehrlich: Ich war einsam, und das färbte lange Zeit meine Wahrnehmung des Landes negativ. Wenn ich heute zurückdenke, werde ich nostalgisch. Und als ich das Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, eine Ewigkeit in der Schweiz gelebt zu haben. Mein Ex-Mann wohnt übrigens noch immer da.
Beim Lesen beschleicht einen das Gefühl, wir seien gefühlskalt.
Aus meiner amerikanischen Perspektive wirken Europäer verschlossen. Ich lebe in Texas, hier ist es normal, in der Warteschlange auf der Post sein ganzes Leben zu erzählen. Als Amerikanerin nimmt man es als unfreundlich wahr, wenn alle schweigen. Ich denke, dass Anna beziehungsweise ich nicht bereit dafür waren. Das Problem wart nicht ihr, sondern ich (lacht).
Schweizer sind irritiert, wenn man sie anspricht.
In Texas ist es das absolute Gegenteil! Wenn jemand nicht offen ist, haben wir das Gefühl, dass er was zu verstecken hat. Diese kulturellen Unterschiede werden oft unterschätzt!
Jill Essbaum liest morgen Abend aus «Hausfrau». Bookshop by Orell Füssli, Bahnhofstrasse, Zürich, 20.30 Uhr.