Die Suworow-Kadetten der russischen Militärmusikakademie schmettern einen dumpfen Marsch, singen dazu, pfeifen und paradieren im Takt, danach wirbeln die Basler Tambouren ihre Schläger übers Trommelfell.
Eine Szene aus grauer Vorzeit?
Mitnichten. Das Ganze spielt sich am 26. September 2012 in Basel ab – beim Haus Seidenhof hängt seit diesem Tag ein Geschenk der russischen Föderation und des russischen Energiekonzerns Gazprom: eine Gedenktafel, die den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) mit dem russischen Zaren Alexander I. (1777–1825) zeigt und an deren gemeinsames Treffen von 1814 in Basel erinnert.
Tatsächlich hatten sich Johann Heinrich Pestalozzi und Zar Alexander I. 198 Jahre vor der Gedenktafelenthüllung in Basel getroffen. Aber wer aufgrund der Darstellung auf der Tafel an ein Treffen zweier ebenbürtiger Heroen jener Zeit glaubt, liegt ziemlich falsch. Zar Alexander I. war einer der wichtigsten Politiker der Epoche, er weilte 1814 im Vorfeld des Wiener Kongresses in Basel. Johann Heinrich Pestalozzi, der damals berühmte Schweizer Reformpädagoge, hörte, dass der hohe Besuch in Basel weilte. Schnurstracks machte er sich von Yverdon aus auf den Weg und drängte sich regelrecht zum Zaren vor.
Verschrobener Typ trifft Herrscher eines Weltreichs
Auf der einen Seite steht nun also der Heisssporn Pestalozzi, mittlerweile von 68 Jahren Pionierarbeit gezeichnet, mit etwas eingefallenen Wangen, leicht vornübergebeugt sich bewegend, mit langen, meist ungekämmten Haaren und einem staubigen Rock, kurz: ein etwas verschrobener Typ. Auf der anderen Seite empfängt ihn der stolze Zar Alexander I. in tadelloser Paradeuniform, der Herrscher eines Weltreichs, in ganz Europa gefragt, 37-jährig, mit rundem, freundlichem Gesicht, gross gewachsen, eine stolze Erscheinung mit Spannung im Körper, ein Magistrat mit Ausstrahlung, wie man ihn heute für einen Heldenfilm casten würde.
Der Schweizer Pädagoge soll Zar Alexander I. angefleht haben, doch bitte dafür zu sorgen, dass sein Erziehungsinstitut in Yverdon-les-Bains nicht weiterhin von vagabundierenden Truppen der Alliierten behelligt würde – zu den Alliierten zählten damals auch die Russen, die sich gegen Napoleon verbündet hatten. Pestalozzi hatte ständig mit Geldproblemen zu kämpfen, sodass sich eine erneute Heimsuchung durch fremde Soldaten verheerend ausgewirkt hätte.
Der Zar hatte einen Schweizer Erzieher
Was Zar Alexander I. versprach, wissen wir nicht. Aber Tatsache ist, dass er vielfältige Beziehungen zur Schweiz hatte. Er war von einem Schweizer erzogen worden, von Frédéric-César de La Harpe (1754–1838). Der Waadtländer unterrichtete und erzog Alexander in der wichtigen Zeit zwischen dessen sechstem und achtzehntem Lebensjahr. Gut möglich ist, dass Alexander in dieser Zeit wertemässig und auch praktisch helvetisch geprägt wurde. Zar Alexander I. war zeit seines Lebens an der Schweiz interessiert und mit ihr verbunden. Und er pflegte weiterhin den Kontakt mit seinem einstigen Erzieher und Mentor de La Harpe.
Alexander I. kam also, wie erwähnt, 1814 nach Basel und bezog hier vorübergehend Quartier. Der Zar und sein Gefolge stiegen im Seegerhof am Blumenrain ab. Sein Stab quartierte sich im Erdgeschoss ein, der Zar selbst aber bezog die Stube im ersten Stock, die er zu einem kaiserlichen Schlafgemach umfunktionieren liess. Zur Zeit seines Besuchs soll der Zar mehrfach russisch-orthodoxe Messen in Basel abgehalten haben. Zu den Messen kamen auch neugierige Damen der besseren Basler Gesellschaft, um den prominenten Russen einmal leibhaftig in Augenschein zu nehmen. Schon vor dem Zeitalter vor «Gala» und «GlücksPost» faszinierten die gekrönten Häupter der weiten Welt. Die Basler Damen, kann man bei Zeitgenossen nachlesen, sollen vom Zaren und seiner edlen Erscheinung sehr angetan gewesen sein.
Schiedsrichter Europas pfeift zugunsten der Schweiz
Zuweilen sind es ja die kleinen Begebenheiten, die Geschichte schreiben. Eine solche ist überliefert, die das Zusammentreffen von Zar Alexander I. nochmals mit etwas Schweizerischem dokumentiert. Am grossen und folgenreichen Wiener Kongress von 1815 war Zar Alexander omnipräsent, schliesslich hatte er den Vorsitz; in der Fachliteratur nannte man ihn «Schiedsrichter Europas». Das ist zwar ein schönes Bild, aber dennoch falsch, denn der Zar sorgte gleichzeitig – um in der Sportsprache zu bleiben – für die Einhaltung der Spielregeln und für das Schiessen der Tore. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wiener Kongress waren peinlichst darauf bedacht, in den Verhandlungen um die neuen Grenzen in Europa möglichst viel für ihr Heimatland herauszuholen, das war auch bei Alexander nicht anders.
Eine etwas andere Rolle hatte die Genferin Anna Eynard-Lullin, die 21-jährige Gattin von Bankier Jean-Gabriel Eynard, dem Sekretär der Genfer Delegation am Wiener Kongress. Die lebenslustige Anna war bei diesem epochalen Ereignis für gute Stimmung zuständig: Sie trank in Wien Tee mit Prinzessinnen und zeigte sich überrascht, wie zugänglich die in Wien verhandelnden Herrscher Europas waren.
Eines Abends war sie zum Ball des russischen Botschafters eingeladen und traf niemand Geringeren als den russischen Zaren Alexander I. höchstpersönlich. Die junge Anna blieb bis morgens um vier Uhr am rauschenden Ball, tanzte Arm in Arm mit Herzögen und sogar gleich zwei Mal mit dem Zaren selbst – wie es exakt rapportiert wurde. Sie soll gegenüber dem Zaren, ganz beiläufig, einige nette Worte über Genf fallen gelassen haben. Ob sie wie andere Tanzpartnerinnen mit dem notorischen Schürzenjäger im Bett landete, ist dagegen nicht überliefert. Auch nicht, ob das Zusammentreffen mit der Genferin politische Folgen hatte.
Auf der Seite der Schweiz
Aber bezeugte Tatsache ist: Zar Alexander I. war der Schweiz sehr gewogen. Wir erinnern uns an seinen Schweizer Erzieher Frédéric-César de La Harpe. Dieser hatte seinerzeit als Waadtländer unter der Herrschaft der Berner gelitten und wollte jetzt verhindern, dass die Schweiz auseinandergerissen wurde. De La Harpe hatte vor dem Kongress mehrfach bei seinem einstigen Schüler Zar Alexander I. interveniert. Die Folge: Alexander I. stellte sich am Wiener Kongress, als es auch für die Schweiz ums Eingemachte ging, gegen eine Aufteilung der Schweiz und gegen eine Eingliederung in den Deutschen Bund. Der Zar war ausserdem gegen die erneute Unterjochung der Waadt und des Aargaus und band damit die Berner Ansprüche zurück. Als Zugeständnis erhielten die Berner den Jura. Auf diese Weise wurde die Eidgenossenschaft am Wiener Kongress um Neuenburg, Genf und das Wallis erweitert und damit insgesamt gestärkt.
Ohne Alexander keine Neutralität
Es gibt sogar Stimmen, die sagen, dass die Schweiz ihre Neutralität alleine Zar Alexanders Wirken in Wien verdankt. Das ist wohl zu weit gegriffen und zu stark vereinfacht. Aber was zutrifft: Der Wiener Kongress war ein Tohuwabohu von Ansprüchen und Zurückweisungen, von Versprechungen und Betrügereien, von Verhandlungsspielchen und Taktiken, von ausgelassenen Bällen und sexuellen Ausschweifungen. Die Schweiz schaffte es dank geschickter Diplomatie und dank persönlicher Beziehungen, dass die erste völkerrechtliche Anerkennung der fortwährenden Schweizer Neutralität durchgesetzt wurde. Ohne Alexanders persönliches Wohlwollen der Schweiz gegenüber wäre die Neutralität wohl nicht zu erreichen gewesen. Die Tänzchen mit der Genferin Anna Eynard haben dabei sicher nicht geschadet …
So bleibt die Frage, warum ein russischer Energiekonzern wie Gazprom im 21. Jahrhundert eine Gedenktafel in Basel sponsert? Die Antwort ist einfach. Das gigantische Energiekonglomerat hat rund ein Dutzend Tochterfirmen in der Schweiz, die Pipelines und Rohstoffhandel betreiben. Die russisch-schweizerischen Beziehungen wurden dereinst von Zar Alexander I. freundlich aufgenommen, aber sie waren im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zwischenzeitlich getrübt – nun sollen sie eine positiv besetzte Fortsetzung erfahren.
Und in diesem Sinn kommt ein – wenn auch auf gleiche Augenhöhe gerücktes – Erinnern an das Treffen zweier Helden der Geschichte beider Länder höchst gelegen.
Die Schweiz und Russland haben noch mehr, was sie aus längst vergangenen Tagen verbindet. Besonders ein Ereignis: General Suworow und seine Schlacht in den Alpen. Ein Denkmal erinnert daran, wie die russischen Soldaten die Franzosen schlugen. Und die Russen erinnern die Schweiz jedes Jahr gern daran, was vor 220 Jahren passierte. 2009 reiste gar der damalige Staatspräsident Medwedew in die Schöllenenschlucht und legte einen Kranz nieder. Letztes Jahr kam der Kranz vom russischen Botschafter Sergei Garmonin. Und er betonte: «Die russischen Soldaten kamen 1799 nicht in die Schweiz, um sie zu erobern oder zu unterwerfen, sondern vielmehr um sie von Eroberern zu befreien.»
Als Flüchtling hingegen kam der Russe Iwan Iljin (1883–1954) 1938 in die Schweiz und schuf hier eine Verfassung für das postkommunistische Russland. 1954 starb der Intellektuelle in Zollikon ZH. Fast ein halbes Jahrhundert geriet er in Vergessenheit. Bis Putin 2005 seine Überreste von Zollikon nach Moskau schaffen liess. Er sorgt persönlich für die Verbreitung seiner Schriften und zitiert ihn in seinen wichtigen Reden. Der Wahlschweizer ist damit zu einem der einflussreichsten Intellektuellen des 21. Jahrhunderts geworden – seine Gedanken prägen den modernen russischen Nationalismus. 2010 berief sich Putin bei seiner Ansprache vor der russischen Generalversammlung auf Iljins Thesen, um zu erklären, warum Russland die Europäische Union schwächen und in die Ukraine einmarschieren müsse.
Die scheinbar harmloseste Form der russisch-schweizerischen Verbindung sind zwei Bären. «Ein bärenstarkes und lebendiges Zeichen der Freundschaft» zwischen den beiden Ländern nannte der russische Botschafter das Geschenk bei der offiziellen Übergabe 2009. Bärenvater Misha war seinem Nachwuchs dann allerdings wenig freundschaftlich verbunden: Vor den Augen der Besucher des Berner Bärenparks tötete Misha 2014 eines seiner Jungen beim Spiel. Und so stehen die Bären sinnbildlich für eine nicht immer ganz einfache Beziehung zwischen den beiden Ländern – so sehr man sie sich auch schönreden mag. Aline Wüst
Die Schweiz und Russland haben noch mehr, was sie aus längst vergangenen Tagen verbindet. Besonders ein Ereignis: General Suworow und seine Schlacht in den Alpen. Ein Denkmal erinnert daran, wie die russischen Soldaten die Franzosen schlugen. Und die Russen erinnern die Schweiz jedes Jahr gern daran, was vor 220 Jahren passierte. 2009 reiste gar der damalige Staatspräsident Medwedew in die Schöllenenschlucht und legte einen Kranz nieder. Letztes Jahr kam der Kranz vom russischen Botschafter Sergei Garmonin. Und er betonte: «Die russischen Soldaten kamen 1799 nicht in die Schweiz, um sie zu erobern oder zu unterwerfen, sondern vielmehr um sie von Eroberern zu befreien.»
Als Flüchtling hingegen kam der Russe Iwan Iljin (1883–1954) 1938 in die Schweiz und schuf hier eine Verfassung für das postkommunistische Russland. 1954 starb der Intellektuelle in Zollikon ZH. Fast ein halbes Jahrhundert geriet er in Vergessenheit. Bis Putin 2005 seine Überreste von Zollikon nach Moskau schaffen liess. Er sorgt persönlich für die Verbreitung seiner Schriften und zitiert ihn in seinen wichtigen Reden. Der Wahlschweizer ist damit zu einem der einflussreichsten Intellektuellen des 21. Jahrhunderts geworden – seine Gedanken prägen den modernen russischen Nationalismus. 2010 berief sich Putin bei seiner Ansprache vor der russischen Generalversammlung auf Iljins Thesen, um zu erklären, warum Russland die Europäische Union schwächen und in die Ukraine einmarschieren müsse.
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