Albumrelease
Tanzpop als Therapie - Lady Gagas neues Album «Chromatica»

Retro-Beats und simpel eingängige Melodien: Mit «Chromatica» kehrt Lady Gaga auf den Dancefloor zurück. Doch das ist nicht der Hauptgrund, der das sechste Album der 34-Jährigen besonders macht.
Publiziert: 29.05.2020 um 11:32 Uhr
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Aktualisiert: 29.05.2020 um 22:48 Uhr
Ernste Themen, verpackt in eingängigen Elektropop: US-Popstar Lady Gaga veröffentlicht ihr sechstes Studioalbum "Chromatica".
Foto: Keystone/AP Interscope

Stefani Joanne Angelina Germanotta - alias Lady Gaga - hat schon oft über ihre Traumata gesprochen. Die amerikanische Popmusikerin sprach über Mobbing, Depressionen, chronische Schmerzen und eine Vergewaltigung. Das ist wichtig zu wissen, wenn man sich ihr neues Album «Chromatica» anhört. Denn die Verarbeitung dieser Erlebnisse zieht sich durch die Lieder - auch wenn man das dem Elektropop beim ersten Hören kaum anmerkt.

Zum Beispiel in der Single «Rain on Me», einer Zusammenarbeit mit Ariana Grande. «I'd rather be dry, but at least I'm alive» (etwa: Ich wäre lieber trocken, aber zumindest bin ich am Leben), singen die Musikerinnen und tanzen im Musikvideo durch den Regen, der wohl eine Metapher für die Tränen der beiden Frauen ist.

Grande hat selbst in ihrer Karriere schlimme Erfahrungen gemacht. Dass «Rain on Me» am dritten Jahrestag des Selbstmordattentats veröffentlicht wurde, bei dem am 22. Mai 2017 auf einem Konzert von Grande in Manchester 22 Menschen und der Attentäter starben, ist vermutlich kein Zufall.

Mit diesem Song ist der Grundstein gelegt für das Thema, das «Chromatica» bestimmt: Tanz mit dem Schmerz und mache ihn dadurch erträglich. Ein Album wie eine Therapie.

Musikalisch kehrt Lady Gaga nach Ausflügen in die Folk-Musik zu dem zurück, wofür sie ab 2008 berühmt geworden ist: Elektropop mit einfachen, krachenden Melodien. «Stupid Love» etwa, die erste Single-Auskopplung aus ihrem sechsten Studioalbum, ist eine klassisch stampfende Lady-Gaga-Tanznummer mit donnernden Synthesizern.

Neben diesem Song sind einige weitere Lieder recht eingängig, es gibt viel glatten Eurodance und schmetternde Beats. Viele der Songs erinnern an Dancepop aus den 90er Jahren. Doch mit ihren alten Krachern wie «Bad Romance» oder «Born This Way» kann leider nicht einmal ein Duett mit Elton John ("Sine from Above") mithalten.

Wer Lady Gaga kennt, weiss aber, dass sich ihr popmusikalisches Konzept noch mehr als bei anderen aus der Performance und dem, was es neben der Musik noch so gibt, speist. Die Theatralik gehört zu Lady Gaga als Gesamtkunstwerk, und so ist es neben der Botschaft auch das Visuelle, das «Chromatica» charmant macht.

In den ersten beiden Musikvideos feiert Gaga eine 90er-Jahre-Ästhetik mit Neonfarben, Plateaustiefeln und Latex. «Stupid Love» sieht aus wie ein Retro-Videospiel. Ein rotes und blaues Team kämpfen in der Wüste gegeneinander, bis Gaga sie - mit ihren pinkfarbenen «Kindness Punks» - zum Schweigen und letztlich zum gemeinsamen Tanzen bringt.

Das könnte ein politischer Kommentar sein, sagte Gaga im Interview mit dem Apple-Music-DJ Zane Lowe. «Die Art, wie ich die Welt sehe ist, dass wir gespalten sind, und das sorgt für eine sehr angespannte Umgebung, die sehr extremistisch ist.»

Interessant ist auch hier die Verarbeitung von Traumata, die noch durch die schmissigsten Beats dringt. «Gotta quit this cryin', nobody's gonna heal me if I don't open the door», heisst es in «Stupid Love» an einer Stelle (etwa: Ich muss mit dem Weinen aufhören, niemand wird mich heilen, wenn ich nicht selbst das Tor öffne).

In dem Lied «911» singt Gaga, wie sie ebenfalls im Interview mit Lowe erläuterte, über die antipsychotischen Medikamente, die sie nimmt. Dahinter stecke das Konzept der «radikalen Akzeptanz», so die Musikerin: «Ich weiss, dass ich mentale Probleme habe, ich weiss, dass diese manchmal dazu führen, dass ich nicht funktioniere als Mensch, aber ich akzeptiere, dass das geschieht.»

In «Free Woman» geht es darum, dass die Sängerin Kontrolle über sich selbst gewinnt - auch das ein Anlass zum Tanzen: «This is my dancefloor I fought for» (etwa: Das ist meine Tanzfläche, für die ich gekämpft habe).

Lady Gaga betont in Interviews immer wieder, dass Selbstliebe und Güte ihr Schaffen motivierten. Nebenher betreibt ihre «Born This Way"-Stiftung neuerdings eine digitale Plattform, auf der junge Menschen etwa ihre Erfahrungen mit Mobbing schildern können.

Dahinter mag Marketing-Kalkül stecken. Doch es gibt selten Popmusikerinnen, die so offen Themen wie Psychopharmaka, psychische Gesundheit oder sexuelle Gewalt ansprechen. In Zeiten, in denen etwa Mobbing im Internet erschreckend weit verbreitet ist, ist es deshalb eine gute Geste, wenn Popstars ihrem Millionenpublikum sichere digitale Räume schaffen oder ermächtigende Botschaften mit auf den Weg geben. (SDA)

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