59. Kunst-Biennale in Venedig
Künstlerin aus Marokko bespielt Schweizer Pavillon

«The Concert» heisst die Ausstellung, mit der die Schweiz an der 59. Kunst-Biennale in Venedig ab dieser Woche ihren Länderpavillon bespielt. Dahinter stecken die Künstlerin Latifa Echakhch, der Perkussionist Alexandre Babel und der Kurator Francesco Stocchi.
Publiziert: 19.04.2022 um 12:07 Uhr
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Aktualisiert: 19.04.2022 um 13:52 Uhr
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Latifa Echakhch bespielt an der 59. Biennale in Venedig (23. April - 27. November 2022) den Schweizer Pavillon. Die Künstlerin, in Marokko geboren, in Frankreich aufgewachsen, lebt seit rund zehn Jahren in der Schweiz. Sie wurde mit einem Wettbewerb von Pro Helvetia ausgewählt. (Archivbild)
Foto: CHRISTIAN BEUTLER

Es ist von eigentümlicher Ambivalenz, dass die Kunst-Biennale in Venedig nach Länderpavillons gegliedert ist. Die wohl wichtigste internationale Kunstausstellung ist die Plattform für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die sich mehrheitlich ihrem Selbstverständnis nach längst von Nationalismen verabschiedet haben. Für diesen Zwiespalt steht der Schweizer Pavillon an der 59. Kunst-Biennale in ganz besonderer Weise.

Denn die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gibt diese Plattform einer Künstlerin, die in Marokko geboren wurde, in Frankreich aufgewachsen ist und seit rund zehn Jahren in Vevey und Martigny lebt und arbeitet: Latifa Echakhch.

Sie selbst beschreibt sich als jemand, die zwischen zwei Stühlen sitzt. «Oft sagen mir Leute, wie toll es sei, zwei Kulturen zu haben», erzählte die gebürtige Marokkanerin im Gespräch mit «Bolero». «Wozu aber brauche ich einen Stuhl? Ich kann mich genauso gut auf den Boden setzen.» So benutze sie ihren persönlichen Hintergrund lediglich, um über Fragen der Identität nachzudenken.

Den Verantwortlichen bei Pro Helvetia geht es in Venedig denn auch nicht um nationale Selbstdarstellung oder das Bedürfnis, genuin schweizerische Kunst zu präsentieren, sondern um Kulturförderung, wie bei der Stiftung immer wieder betont wird. Daraus lässt sich schliessen, dass Venedig eine Plattform sein soll für Künstlerinnen und Künstler, die einen Bezug zur Schweiz haben und gleichzeitig für die Offenheit und die Professionalität hiesigen Schaffens stehen.

So entscheidet auch nicht Pro Helvetia, wer den Länderpavillon bespielen darf, sondern im Auftrag der Stiftung eine fünfköpfige schweizerische und internationale Jury, und dies mittels eines Wettbewerbs. Für die 59. Kunst-Biennale waren sechs Kunstschaffende eingeladen. «Man musste innerhalb von nur sechs Wochen ein Projekt vorlegen, und ich gewann», sagte Echakhch.

Gezeigt wird nun «The Concert», eine Art Zeitreise gegen den Uhrzeigersinn, wie Pro Helvetia über die Ausstellung schreibt. Düstere Überreste von Kunst empfangen die Besucherinnen und Besucher bereits im Vorgarten des Pavillons. Im Bau ändert sich dann die Atmosphäre von Raum zu Raum. Skulpturen, die von der volkstümlichen Bildhauerei inspiriert sind, werden zusehends von einer sich ausbreitenden Dunkelheit verschluckt - als laufe die Zeit rückwärts vom hellen Tag zum vorherigen Abend.

«Szenen der Vergänglichkeit, der Katharsis» seien das, schreibt Pro Helvetia im Vorfeld zur Eröffnung. Sie thematisierten «den Kreislauf des Lebens auf vielschichtige und komplexe Art». Zudem sei das verwendete Material, weil es von vergangenen Biennalen stammt und wiederverwertet wurde, «Teil einer Transformation».

Darüber hinaus ist die Ausstellung ein Crossover von Bildender Kunst und Musik - wie der Titel ja auch verspricht. Echakhch hat mit dem Perkussionisten und Komponisten Alexandre Babel zusammengearbeitet. Er lebt in Genf und Berlin und gilt als «Referenz der experimentellen Musik», so Pro Helvetia. Entsprechend spielt «The Concert» mit Harmonien und Dissonanzen. Auch hier zeigt sich eine Ambivalenz, denn dieses Spiel ist eines «mit den gemischten Gefühlen von Erwartung, Erfüllung und Auslöschung». Die Skulpturen werden so zu einem Teil einer rhythmischen und räumlichen Interpretation.

Echakhch sagte dazu gegenüber dem «Bolero», sie interessiere dabei, «wie das System hinter der Musik funktioniere»: «In der Ausstellung möchte ich eine Erfahrung kreieren, der das System eines Konzerts zugrunde liegt. Man erlebt, wie die Zeit vergeht, ihre Zyklen, ihre Wiederholungen.» Dabei vertritt Echakhch ein Musikverständnis, wonach es «eigentlich gar nicht um Kommunikation» gehe, «sondern es ist alles eine Frage des Raums».

Kuratiert hat die Ausstellung übrigens kein Schweizer, sondern der Italiener Francesco Stocchi. Er lebt in Amsterdam und ist Kurator für moderne und zeitgenössische Kunst am Museum Boijmans Van Breuningen in Rotterdam. Zudem ist Stocchi verantwortlich für das Kunstprogramm der Fondazione Memmo in Rom. 2021 war er Ko-Kurator der 34. Biennale von São Paulo.

Latifa Echakhch ist im Übrigen im schweizerischen wie im internationalen Kunstbetrieb längst keine Unbekannte mehr. 2007 hatte sie ihre erste Einzelausstellung im Kunstmuseum Le Magasin in Grenoble; es folgten viele weitere in zahlreichen Ländern, beispielsweise im Centre Pompidou in Paris, in der Fondazione Memmo in Rom, im Hammer Museum in Los Angeles, im MACBA in Barcelona oder in der Tate Modern in London. 2013 wurde sie mit dem renommierten Prix Marcel Duchamp in Paris ausgezeichnet. 2015 hat Echakhch im Museum Haus Konstruktiv in Zürich ausgestellt und erhielt den Zürcher Kunstpreis. Studiert hat sie an der Ecole supérieure d'art in Grenoble; ihren Abschluss hat sie an der Ecole nationale supérieur des beaux-arts in Lyon gemacht.

Die Ausstellung «The Concert» im Schweizer Pavillon an der 59. Kunstbiennale in Venedig wird am Donnerstag in Anwesenheit von Bundesrat Alain Berset offiziell eröffnet; für das Publikum ist sie ab Samstag zu sehen. Schliessen wird der Schweizer Pavillon am 27. November.

(SDA)

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