Obwohl sie ihre Bluttat angekündigt hatte, war sie auf freiem Fuss. Alice F.* steht am Montag wegen Mordes vor Gericht. Am 21. März 2019 erstach die Rentnerin Primarschüler Ilias (†7) mit einem Messer. Mitten in Basel. Am helllichten Tag.
Täterin F.* leidet seit Jahren an einer «chronisch schwerwiegend wahnhaften Störung». Schon vor der Tat wurde ihr Querulanten-Wahn in drei psychiatrischen Gutachten diagnostiziert. Doch weil sie nicht wollte, wurde sie nie mit Medikamenten behandelt.
Die Polizei hatte die Rentnerin auf dem Radar. BLICK-Recherchen zeigen, dass Beamte mehrfach an ihrem Wohnort waren. Offensichtlich ging aber niemand davon aus, dass die Rentnerin ihre Fantasien auch umsetzt – sonst hätte man sie vorsorglich weggesperrt.
Die wichtigsten Faktoren für Gewalt sind Alter und Geschlecht
Der forensische Psychologe Jérôme Endrass, stellvertretender Leiter des Amts für Justizvollzug Zürich, erklärt: «Die wichtigsten Faktoren für Gewalt sind Alter und Geschlecht. Männer sind gewalttätiger als Frauen. Und je jünger, desto gewalttätiger.» Er macht den Umkehrschluss: «Dass eine über 70-jährige Frau jemanden umbringt, kommt fast nie vor.»
Zwar gibt es viele Querulanten, die mit Behörden streiten. Statistisch gesehen wendet aber weniger als ein Prozent von ihnen je Gewalt an. Und wenn, dann richtet sich die Gewalt fast nie gegen unbeteiligte Dritte. «Meistens sind Personen gefährdet, mit denen sich die Querulanten streiten», so Endrass. «Die Kombination, dass eine über 70-jährige Frau einen Wildfremden tötet, ist extrem selten. Trotz 20 Jahren Berufserfahrung ist mir kein solcher Fall bekannt.»
Keine Haft nur wegen Drohung
Es braucht viel, damit Querulanten vorsorglich aus dem Verkehr gezogen werden. So kann das Zwangsmassnahmen-Gericht die Sicherheitshaft anordnen. Eine Drohung reicht dafür nicht aus. Damit es rechtlich so weit kommt, muss vom Querulanten eine beträchtliche konkrete Gefahr ausgehen. Hinweise sind etwa eine Todesliste oder Waffen. Doch selbst dann gilt die Sicherheitshaft nicht über Jahre.
Querulanten – die an einer psychischen Krankheit leiden – kann man gegen ihren Willen in einer Klinik mit Medikamenten behandeln. «Ob das gemacht wird, hängt von der Schwere der Krankheit ab», so Endrass. «Die moderne Psychiatrie ist sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Leute gegen ihren Willen zu behandeln.» Der Trend habe sich in den letzten 20 Jahren verstärkt.
«Thema Zwangsbehandlung muss diskutiert werden»
Laut Endrass hat die Zurückhaltung mit der schwierigen Vorgeschichte der Psychiatrie zu tun – aber auch mit dem «Zeitgeist». Ohne diesen zu kritisieren, sagt er: «Nach dem aktuellen Fall wäre es angemessen, die Diskussion um Zwangsbehandlung kritisch anzuschauen. Das Pendel schwingt heute sehr weit in Richtung Schutz der individuellen Bedürfnisse der Patienten.»
Er stellt klar: «Nur eine Diktatur kann Menschen vorsorglich jahrelang einsperren.» Der Rechtsstaat muss sich laut Endrass immer mit der unbequemen Nachricht auseinandersetzen, dass trotz aller Bemühungen «ein gewisses Restrisiko bleibt».
*Name d. Red. bekannt