Wollen sie das neue Tarifsystem umgehen?
Ärzte bieten Patienten viel häufiger auf

Seit Anfang Jahr nahmen die Konsultationen um elf Prozent zu. Wollen die Ärzte damit das neue Tarifsystem von Gesundheitsminister Alain Berset umgehen?
Publiziert: 07.10.2018 um 03:13 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 22:05 Uhr
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Für Kinder unter sechs Jahren dürfen sich Ärzte 30 Minuten Zeit nehmen. Ansonsten nur 20. Das hat Bundesrat Berset entschieden.
Foto: Getty Images
Moritz Kaufmann

Zwanzig Minuten. So viel Zeit darf sich der Arzt bei ­einer normalen Abklärung nehmen. Es sei denn, sein Patient ist unter sechs oder über 75 Jahre alt. Dann beträgt die Limite 30 Minuten. Das gilt seit Anfang Jahr. So hat es Alain Berset (46) entschieden. Sein Ziel: Kosten sparen. Das Anliegen des Bundesrats scheint aufzugehen – aber nur auf den ersten Blick.

Im ersten Halbjahr 2018 sanken die Kosten pro Arztkonsultation im Schnitt um zehn Prozent. Dies belegen Zahlen, die der Krankenkassenverband Santésuisse auf Anfrage von SonntagsBlick zusammengestellt hat.
Das grosse Aber: Im gleichen Zeitraum haben die Arztkonsultationen laut Santésuisse um elf Prozent zugenommen. Die Ärzte bieten die Patienten also häufiger auf: ein Nullsummenspiel!

Santésuisse-Geschäftsführerin Verena Nold hat für diesen Anstieg kein Verständnis: «Die Behandlungszeit ist angemessen, um die Patienten optimal zu betreuen. Es geht um medizinische Leistungen, diese müssen im Zentrum stehen. Für anderes ist der Arzt nicht zuständig.»

Die Haus- und Kinderärzte sehen es naturgemäss anders. Der Verband der Haus- und Kinderärzte Schweiz (MFE) hat eine Befragung bei seinen Mitgliedern durchgeführt, um he­rauszufinden, wie die Ärzte mit den vom Bund vorgegebenen Zeitlimiten klarkommen.

Das Resultat: 86 Prozent sehen sie als grösseres oder sehr grosses Problem. 30 Prozent der Haus- und Kinderärzte geben an, dass sie nicht mehr alle erbrachten Leistungen in Rechnung stellen.

Tricksereien bei der Abrechnung

Und was tun Mediziner, die nicht auf Honorare verzichten wollen? 41 Prozent der Befragten in der Santésuisse-Studie gaben an, «auf andere Tarifpositionen auszuweichen». Sprich: zu tricksen!
Yvan Rielle sieht daran nichts Verkehrtes. Er arbeitet für den Verband MFE und hat die Umfrage durchgeführt.

«Dass Ärzte auf andere Tarifpositionen ausweichen, heisst nicht, dass sie etwas Illegales machen – sie nutzen den Spielraum innerhalb des Systems, um abrechnen zu können, was sie ja tatsächlich geleistet haben.»

Die Krankenkassen aber zeigen sich von der Haus- und Kinderarzt-Umfrage schockiert. «Das übertrifft unsere schlimmsten Befürchtungen», so Santé­suisse-Geschäftsführerin Nold. Zwar hält sie den Hausärzten zugute, dass diese «grundsätzlich gute Arbeit» machten. Das Resultat der Umfrage aber sei skandalös.
«Das zeugt von einer unglaublichen Selbstbedienungsmentalität», beklagt Nold. Dies gehe zulasten der Patienten. «Sie leiden darunter in Form höherer Prämien.»

Jetzt sammelt man eigene Daten

Rielle hält für den Verband MFE dagegen: «Von den Haus- und Kinderärzten wird viel Koordinationsarbeit verlangt. Zum Beispiel Berichte schreiben, mit Schulen telefonieren oder mit Eltern und Angehörigen kommunizieren. Dafür haben sie zu wenig Zeit.» Er verlangt, dass Alain Berset die Zeitlimiten wieder abschafft. Die Zahlen von Santésuisse will Rielle allerdings nicht kommentieren.

Lösen kann den Konflikt nur Alain Bersets Bundesamt für Gesundheit. Dort verteidigt man die Zeitlimiten: «Der Bundesrat musste eingreifen, weil sich die Tarifpartner – also Ärzte, Spitäler und Krankenkassen – nicht einigen konnten,» teilt ein Sprecher mit. Derzeit sammle man eigene Daten, 2019 wisse man mehr.

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