Vor bald 90 Jahren hat der grosse Ökonom John Maynard Keynes prophezeit, dass seine Enkel nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Jetzt fragt man sich, warum sich selbst seine Urenkel noch zu Tode arbeiten. Am technologischen Fortschritt kann es nicht liegen. Der hat Keynes Erwartungen weit übertroffen. Andere weisen darauf hin, dass wir heute vor allem damit beschäftigt sind, die Komplexität des Kapitalismus zu bewältigen – Werbung, Transport, Rechtshändel, ein ausuferndes Finanzsystem, Arbeitsmarktbürokratie etc. Und die Urenkel merken es gar nicht. Sie können Aufwand und Ertrag nicht mehr unterscheiden und zählen alle Umwege des Marktes zum BIP hinzu.
Keynes selbst hatte eine Vorahnung. Er sei zwar sicher, dass es uns gelingen werde, den Reichtum zu geniessen, aber: «Für lange Zeiten wird der alte Adam in uns noch so mächtig sein, dass jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, um zufrieden sein zu können.» Jetzt wissen wir: Der alte Adam war stärker. Moderne Ökonomen haben diesen Adam – die menschliche Natur – nicht mehr auf dem Bildschirm. Deshalb müssen wir uns heute von einem Anthropologen namens David Graeber erklären lassen, warum wir Urenkel ein «beschissenes» Leben führen.
Sklaven der Finanzmärkte
Kurz zusammengefasst sagt Graeber dies: Die Kombination von Arbeitsdrang (alter Adam) und technologischem Fortschritt hat dazu geführt, dass wir heute nicht mehr in einer Marktwirtschaft (wie Keynes sie sich vorstellte) leben, sondern in den Feudalismus zurückgefallen sind. Im Feudalismus organisiert eine Minderheit die Arbeit der Massen und schöpft deren Mehrwert ab. Die neue Oberschicht sind die Finanzmärkte und die von ihnen eingesetzten Topmanager und Spezialisten. Diese Feudalherren demonstrieren ihre Macht, indem sie möglichst viel Personal halten – auch wenn die deren Arbeit gar nicht wirklich brauchen.
Und damit sind wir beim «beschissenen» Teil dieser These: Fast 40 Prozent der Arbeitnehmer, so Graeber, empfänden ihre Arbeit als wertlos. Das nennt er Bullshit-Jobs. Das trifft auch auf gut bezahlte Jobs in der Werbung, der Administration oder bei Banken zu. Weitere gut 20 Prozent sehen zwar den Sinn ihrer Arbeit ein, leiden aber unter der Monotonie, der Unselbständigkeit und der miesen Bezahlung ihrer Arbeit. Dazu gehören etwa Jobs in der Paketzustellung oder in Warenlagern bei Zalando oder Amazon.
Auch in der Schweiz langweilt sich mehr als ein Drittel
Woher nimmt Graeber diese Zahlen? Er hat 2013 einen kurzen Aufsatz zum Thema Bullshit-Jobs geschrieben, der ein weltweites Echo auslöste. Meinungsforscher nahmen das Thema auf und auch Graeber fing an, Zuschriften systematisch einzuordnen und Interviews zu führen. Daraus ist eine kleine Wissenschaft entstanden. Die erwähnten Grössenordnungen scheinen solide. Nach einer Umfrage von «20 Minuten» langweilen sich 36 Prozent aller Schweizer Arbeitnehmer jeden Tag. Nur jeder dritte meint: «Nein, ich habe einen spannenden Job.»
Glaubt man Graeber, hat das Füllhorn des technologischen Fortschritts im wahrsten Sinn «perverse» Folgen. Die meisten Menschen glauben, dass sie ihren Wohlstand dadurch verdienen müssten, dass sie sich mit einer sinnlosen Arbeit selbst bestrafen. Bei der Arbeit herrschten deshalb oft sadomasochistische Beziehungen. Wer weiss, dass ein Job eigentlich überflüssig ist, hat Angst, ihn zu verlieren und lässt sich vom Vorgesetzten viel zu viel bieten, was diese ihrerseits gerne ausnützen. Daraus entstehe auch ein kollektiver Neid auf alle, die noch eine sinnvolle Arbeit machen dürfen. Das erkläre die tiefen Löhne von Reinigern, Pflegern, Bauern, Verkaufspersonal und (in den USA) von Lehrern.
Wir sind ein Fall für die Psychiater
«Ich hab es noch halbwegs befürchtet», würde Keynes wohl heute ausrufen. Im erwähnten Brief an die Enkel schrieb er damals: «Wir sollten imstande sein, uns von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, mit denen wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben. (...) Die Liebe zum Geld statt zu den wirklichen Freuden des Lebens wird als das erkannt werden, was sie ist, ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halbkriminellen, halbpathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt.»
Keynes Enkel haben es nicht geschafft, aber immerhin hat sein Urenkel David Graeber gemerkt, dass man die Wirtschaft inzwischen den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlassen sollte.