Die Zugfahrt durch den Gotthard-Basistunnel ist ohne Reservation eine Lotterie. Selbst wenn die SBB-App eine tiefe Auslastung anzeigt, kann man sich weder Sitz- noch Stehplatz sicher sein. So etwa am letzten Sonntag: Kaum waren die Passagiere um 15.41 Uhr in Bellinzona auf den Intercity-Zug aus Lugano TI zugestiegen, hiess es durch die Lautsprecher: «Bitte aussteigen, wer keine Reservation hat. Der Zug ist überfüllt!»
Die Zugführer haben ganze Familien ohne Reservation aufgefordert, die Abteile zu verlassen. Die Stimmung am Sonntagabend war gemäss Passagieren aggressiv. Wer wollte schon den Anschluss in Zürich verpassen oder eine halbe Stunde warten, um dann in Arth-Goldau umzusteigen? Was überrascht, ist nicht, dass die Züge an Schulferienwochenenden pumpenvoll sind.
Keine Lehren gezogen
Befremdend ist etwas anderes. Im Sommer 2017 nach der Eröffnung des neuen Gotthard-Basistunnels erklärten die SBB den Rauswurf von Passagieren in Bellinzona mit dem überraschenden Ansturm. Man habe die Lehren daraus gezogen, hiess es. Doch offenbar wurden keine Lehren gezogen. Das Entsorgen von Passagieren in Bellinzona ist nämlich inzwischen normal.
SBB-Sprecher Christian Ginsig bestätigt auf Anfrage: «Auf 850 Züge durch den Basistunnel kommt es bei einem Zug zu einer Überbelegung.» Bei gegen 50 Personenzügen, die täglich tief durch den Gotthard fahren, trifft es demnach im Schnitt knapp alle 14 Tage einen. Das Risiko ist zu Hauptverkehrszeiten wie Ostern, Auffahrt oder Pfingsten erhöht. Die SBB empfehlen dann eine Sitzplatzreservation. Sie betonen, dass niemand aus dem Zug gezwungen werden könne. Die Aufforderungen der Zugführer sind aber nicht zimperlich.
Mangel an Rollmaterial
Dass die SBB Sicherheitsauflagen haben für das Befahren des Basistunnels, leuchtet ein. Allerdings kann man der Bahn vorwerfen, dass sie es offenbar regelmässig auf unliebsame Rausbeförder-Aktionen ankommen lassen. Die Überbelegung am Sonntag kam nicht durch unvorhersehbares Wetter oder höhere Gewalt. Ein vorangegangener EC22 Mailand–Zürich verkehrte laut Ginsig nur mit einem statt zwei Teilen des sogenannten ETR-Zugs. «Die Verfügbarkeit des ETR International ist aktuell angespannt», führt Ginsig aus. Die SBB leiden unter Engpässen beim Rollmaterial. Nicht zuletzt weil der neue Doppelstock-Zug FV-Dosto von Bombardier nicht voll einsetzbar ist.