Teuer, aber gut und für die ganze Bevölkerung zugänglich: Das ist die Meinung der Schweizer, wenn man sie zu ihrem Gesundheitssystem befragt. Die ersten beiden Punkte sind nicht bestritten.
Doch jetzt zeigt eine Umfrage des Bundes, dass der breite Zugang für viele Schweizer heute nicht mehr gegeben ist. Fast jeder vierte Befragte sagt, dass er aus finanziellen Gründen auf medizinische Leistungen verzichtet. Damit gehört die Schweiz zu den Ländern mit dem höchsten Anteil an Leuten, die sich den Arzt nicht leisten können. Die Patientenschützer schlagen Alarm. Im internationalen Vergleich zahlen die Patienten in der Schweiz einen hohen Anteil der Kosten aus dem eigenen Sack. Dennoch wollen Politiker den Selbstbehalt weiter erhöhen.
BLICK sucht Menschen, die nicht zum Arzt gehen, weil ihnen das Geld fehlt. Oder Patienten, die Behandlungen abbrechen und auf wichtige Medikamente verzichten, weil sie die nicht bezahlen können. Schreiben Sie an blickwirt@ringier.ch oder per Whatsapp auf 079 813 80 41. Zuschriften werden diskret behandelt.
BLICK sucht Menschen, die nicht zum Arzt gehen, weil ihnen das Geld fehlt. Oder Patienten, die Behandlungen abbrechen und auf wichtige Medikamente verzichten, weil sie die nicht bezahlen können. Schreiben Sie an blickwirt@ringier.ch oder per Whatsapp auf 079 813 80 41. Zuschriften werden diskret behandelt.
Nach einer Blasenspiegelung verschreibt der Gynäkologe Melanie B.* (50) drei Zäpfchen. Sie sollen verhindern, dass es zu Entzündungen im Unterleib kommt. In der Apotheke erfährt B., dass sie das Medikament bar bezahlen muss. Die 90 Franken hat sie nicht – und geht ohne Arznei heim.
Der Fall aus dem Kanton Zürich steht exemplarisch für Tausende Patienten in der Schweiz. Aus finanziellen Gründen nimmt fast jeder Elfte ein Medikament gar nicht oder nicht in der empfohlenen Dosis ein. Fast zehn Prozent verzichten auf empfohlene Kontrolluntersuchungen.
Insgesamt spart fast jeder Vierte auf Kosten der Gesundheit, wie eine Umfrage des Bundes zeigt. 22,5 Prozent der Befragten sagten, sie würden aus finanziellen Gründen auf medizinische Leistungen verzichten – der Zahnarztbesuch ist nicht eingerechnet.
Nur die USA sind noch schlechter platziert
Vor sechs Jahren war der Wert weniger als halb so hoch. Damals lag die Schweiz noch bei den Ländern mit den wenigsten Menschen, die aus Kostengründen nicht zum Arzt gehen. Nun ist sie auf dem vorletzten Platz – nur in den USA ist der Anteil noch höher. Fazit: Die beiden Länder mit den teuersten Gesundheitssystemen haben den höchsten Anteil an Menschen, die sich den Arzt nicht leisten können.
Betroffen sind in der Schweiz vor allem Ausländer und Arme. Der Anteil der Ausländer, die auf Kosten der Gesundheit sparen, ist 2016 um fast 30 Prozent höher als 2010. «Menschen, deren Einkommen unter dem Durchschnitt liegt, waren 2010 schon einem grösseren Risiko ausgesetzt, eine Behandlung aus Kostengründen abzulehnen», heisst es in der Studie. «Dieses Risiko hat sich noch verschärft.»
Das wirkt sich aufs gesamte Gesundheitssystem aus: Fehlende Behandlungstreue verursache höhere Gesundheitskosten, warnt der Krankenkassenverband Santésuisse. Die Gegenseite sieht das ähnlich.
Margrit Kessler (68), Präsidentin der Schweizerischen Stiftung Patientenschutz (SPO), sagt: Wenn die Leute nicht mehr rechtzeitig zum Arzt gingen, könnte der Schaden danach grösser und Behandlungen teurer werden.
Die Patientenschützerin findet die Zahlen aus der Studie «bedenklich». Viele Schweizer seien wegen ihres geringen Einkommens dazu gezwungen, eine zu hohe Franchise zu wählen, um bei den Prämien zu sparen. «Deshalb überlegen sie sich mehrmals, ob sie einen Arzt aufsuchen wollen oder ob sie noch zuwarten können.»
Experte gibt sich erstaunt
Ist die Schweiz zu einem medizinischen Entwicklungsland verkommen? Stefan Felder (57), Gesundheitsökonom an der Uni Basel, verneint. Der Zugang zur medizinischen Versorgung für die breite Bevölkerung sei im internationalen Vergleich noch immer vorbildlich.
Ärmere Menschen seien zwar auch in der Schweiz kränker als der Durchschnitt, aber «medizinisch ausreichend versorgt». Felder deutet die Studie so: Die befragten Personen reagierten auf den starken Prämienanstieg und darauf, dass alle davon sprächen, wie teuer die Gesundheitsversorgung geworden sei.
Clémence Merçay (35), die für das Schweizerische Gesundheitsobservatorium die Umfrage ausgewertet hat, erklärt, dass die Schweizer 2016 online befragt wurden – und nicht wie 2010 via Telefon. Die Befragten hätten sich wohl daher etwas freier ausgedrückt als in anderen Ländern, wo sie weiterhin per Telefon befragt wurden.
Aber warum geben dann die Schweizer so offen zu, auf Kosten der eigenen Gesundheit zu sparen? «Es kann sein, dass die Befragten bei medizinischen Leistungen die Behandlung kleinerer Wehwehchen, Check-ups oder Kontroll-Besuche gemeint haben», sagt Merçay.
Klar ist: Im Fall von Melanie B. handelte es sich nicht um ein Wehwehchen, sondern um eine medizinische Notwendigkeit. Das Medikament erhielt sie schliesslich trotz finanziellem Engpass. Ein Nachbar lieh ihr Geld.
* Name der Redaktion bekannt
Wegen der hohen Kosten können sich immer mehr Menschen den Arzt nicht mehr leisten. Auf Umwegen kommen manche aber trotzdem zu medizinischen Leistungen.
Manche profitieren von Ärzten mit Herz: Insider berichten von Medizinern, die bei der Abrechnung ein Auge zugunsten des Patienten zudrücken. Es gibt auch Stiftungen, die einspringen. Etwa die Hülfsgesellschaft Winterthur. Sie deckt in Notfällen medizinisch notwendige Leistungen, die von der Krankenversicherung nicht gedeckt sind.
Manche gehen weiter als bis nach Winterthur ZH: So stieg zwischen 2010 und 2015 die Anzahl von stationär behandelten Schweizern in deutschen Kliniken um fast einen Drittel. Die ambulanten Behandlungen nahmen sogar um 40 Prozent zu.
In vier von zehn Fällen handle es sich um geplanten Medizintourismus, sagt Jens Juszczak (46), der an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (D) zum Thema Medizintourimus forscht. Der grosse Preisunterschied bei vergleichbarer Qualität sei ein Argument für Schweizer Patienten, nach Deutschland zu gehen.
Die Kosten spielten auch bei jenen eine Rolle, die sich beim Medizinischen Notrufzentrum (MNZ) in Basel melden, sagt dessen Geschäftsführer Stephan Burla (57). Das MNZ berät kostenlos und vermittelt jährlich rund 20 000 Gespräche an Ärzte. «In vielen Fällen wird vom Arzt keine Rechnung gestellt, wenn es bei der telefonischen Beratung bleibt», sagt Burla.
Eine weitere Folge der teuren Behandlungskosten: Apotheken werden zu Sprechzimmern. «Apotheken sind der erste Ansprechpartner im Falle von Gesundheitsproblemen», so Thierry Philbet, Sprecher vom Verband Pharmasuisse. Einige Kunden erhalten pharmazeutische Beratung, ohne ein Produkt zu kaufen.
Wegen der hohen Kosten können sich immer mehr Menschen den Arzt nicht mehr leisten. Auf Umwegen kommen manche aber trotzdem zu medizinischen Leistungen.
Manche profitieren von Ärzten mit Herz: Insider berichten von Medizinern, die bei der Abrechnung ein Auge zugunsten des Patienten zudrücken. Es gibt auch Stiftungen, die einspringen. Etwa die Hülfsgesellschaft Winterthur. Sie deckt in Notfällen medizinisch notwendige Leistungen, die von der Krankenversicherung nicht gedeckt sind.
Manche gehen weiter als bis nach Winterthur ZH: So stieg zwischen 2010 und 2015 die Anzahl von stationär behandelten Schweizern in deutschen Kliniken um fast einen Drittel. Die ambulanten Behandlungen nahmen sogar um 40 Prozent zu.
In vier von zehn Fällen handle es sich um geplanten Medizintourismus, sagt Jens Juszczak (46), der an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (D) zum Thema Medizintourimus forscht. Der grosse Preisunterschied bei vergleichbarer Qualität sei ein Argument für Schweizer Patienten, nach Deutschland zu gehen.
Die Kosten spielten auch bei jenen eine Rolle, die sich beim Medizinischen Notrufzentrum (MNZ) in Basel melden, sagt dessen Geschäftsführer Stephan Burla (57). Das MNZ berät kostenlos und vermittelt jährlich rund 20 000 Gespräche an Ärzte. «In vielen Fällen wird vom Arzt keine Rechnung gestellt, wenn es bei der telefonischen Beratung bleibt», sagt Burla.
Eine weitere Folge der teuren Behandlungskosten: Apotheken werden zu Sprechzimmern. «Apotheken sind der erste Ansprechpartner im Falle von Gesundheitsproblemen», so Thierry Philbet, Sprecher vom Verband Pharmasuisse. Einige Kunden erhalten pharmazeutische Beratung, ohne ein Produkt zu kaufen.
SonntagsBlick wertete zwei Parlamentsregister aus. Einerseits das der Interessenbindungen, in dem National- und Ständeräte ausserparlamentarische Ämter und Mandate angeben – auf folgende Sektoren verteilt: Krankenkassen, Pharma, Patienten (Patientenstellen, Konsumentenschützer, Aidshilfe, Suchtberatungen etc.) sowie Leistungserbringer wie Ärzte, Spitäler, Alters- bzw. Pflegeheime, Spitex und Vereine wie Pro Senectute, sofern sie Leistungen anbieten, die von der Grund- oder Zusatzversicherung bezahlt werden. Register zwei enthält Zutrittsberechtigungen zur Wandelhalle, die jeder Parlamentarier an je zwei Gäste vergeben darf (Sektorenaufteilung wie bei den Interessenbindungen). PR-Agenturen sind oft für mehrere Sektoren tätig, so erklären sich die Überschneidungen in der Grafik.
SonntagsBlick wertete zwei Parlamentsregister aus. Einerseits das der Interessenbindungen, in dem National- und Ständeräte ausserparlamentarische Ämter und Mandate angeben – auf folgende Sektoren verteilt: Krankenkassen, Pharma, Patienten (Patientenstellen, Konsumentenschützer, Aidshilfe, Suchtberatungen etc.) sowie Leistungserbringer wie Ärzte, Spitäler, Alters- bzw. Pflegeheime, Spitex und Vereine wie Pro Senectute, sofern sie Leistungen anbieten, die von der Grund- oder Zusatzversicherung bezahlt werden. Register zwei enthält Zutrittsberechtigungen zur Wandelhalle, die jeder Parlamentarier an je zwei Gäste vergeben darf (Sektorenaufteilung wie bei den Interessenbindungen). PR-Agenturen sind oft für mehrere Sektoren tätig, so erklären sich die Überschneidungen in der Grafik.