Mehr als viereinhalb Jahre sind vergangen, seit Verena M.* (33) im Zürcher Bademodengeschäft Ta-Bou ihren letzten Arbeitstag hatte. Das Engagement endete im Streit – und beschäftigt Anwälte und Richter bis heute.
Grund ist das Arbeitszeugnis, das Ta-Bou-Inhaber Gianni De Nicola (69) seiner ehemaligen Angestellten ausgestellt hat. Darin steht zwar, dass M. ihr aufgetragene Arbeiten anfänglich zur «vollen Zufriedenheit» erledigt hat, dass ihre «fleissige, pflichtbewusste und flexible Art» geschätzt wurde und sie bei Kundinnen und Mitarbeitenden «sehr beliebt» war.
In dem Schreiben heisst es aber auch, dass sich die Situation im frühen Sommer 2015 «zum Nachteil verändert» habe: «M. kam verschiedentlich zu spät – ohne eine vorherige Mitteilung!» Zudem habe sie «Infos verweigert, warum sie zwei Stunden später zum Einsatz kam und ähnlich Unangenehmes.»
Richter diktierte Arbeitszeugnis Wort für Wort
Nach einem Eklat am Sommernachtessen sei die «unausweichliche Trennung» erfolgt: «Am 9. Juli 2015 kam es zur abrupten Beendigung der Anstellung, da sie unerlaubterweise den Arbeitsplatz verliess, den Schlüssel abgab – offensichtlich wusste sie an diesem Tag schon, dass sie die ganze verbliebene Kündigungszeit krank sein würde ...»
M. klagte gegen dieses Arbeitszeugnis – und erhielt vom Arbeitsgericht Zürich recht. De Nicola wurde verknurrt, seiner ehemaligen Angestellten ein neues Zeugnis auszustellen. Doch dabei blieb es nicht: Der Richter diktierte dem Unternehmer Wort für Wort, wie er dieses Zeugnis formulieren soll.
«Das Arbeitsgericht verlangt von mir, dass ich sämtliche Verfehlungen der Mitarbeiterin verschweige», sagt De Nicola. Er werde das vom Richter diktierte Arbeitszeugnis deshalb nicht unterschreiben. «Ich müsste lügen und würde künftige Arbeitgeber von M. hinters Licht führen.»
Busse von 6000 Franken
Die Justiz hat kein Gehör für diese Argumentation. Im April 2019 bestätigte das Bezirksgericht Zürich eine Verurteilung wegen «mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen». Dem Unternehmer wurde eine Busse von 6000 Franken auferlegt, die bei Nichtbezahlung in eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen umgewandelt wird.
Nicht einmal die Drohung mit dem Gefängnis kann De Nicola zum Einlenken bewegen: «Wenn es sein muss, gehe ich bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, um gegen dieses falsche System anzukämpfen.»
Der Fall De Nicola ist ein Extrembeispiel. Streitigkeiten über Arbeitszeugnisse aber sind in der Schweiz keine Seltenheit, wie Thomas Geiser sagt, emeritierter Professor für Arbeitsrecht der Universität St. Gallen: «Dass die Arbeitgeberin dann unter Strafandrohung verurteilt wird, ein entsprechendes Zeugnis auszustellen, ist durchaus üblich.»
Wohlwollend, aber wahr
Doch wie viel sind Mitarbeiter-Beurteilungen wert, die von Richtern diktiert werden? Und wie viel Kritik verträgt ein Arbeitszeugnis in der Schweiz? Dazu Geiser: «Arbeitszeugnisse müssen wahr sein. Wenn die Arbeitgeberin mit den Arbeiten des Arbeitnehmers nicht zufrieden war, darf sie nicht ein positives Zeugnis ausstellen.» Dennoch müsse das Zeugnis gemäss Obligationenrecht «wohlwollend» verfasst sein.
Wohlwollend, aber wahr – dieser Grundsatz dürfte dazu beigetragen haben, dass sich in der Schweiz zahlreiche Codierungen und Floskeln eingebürgert haben, die Arbeitszeugnisse intransparent machen. «Wenn in einem Zeugnis zum Beispiel steht, dass jemand ‹zur Zufriedenheit› des Arbeitgebers gearbeitet habe, bedeutet das heute: die Leistung war schlecht», sagt Peter Häusermann, der seit 20 Jahren eine Hotline betreibt, die Arbeitgeber beim Verfassen schwieriger Arbeitszeugnisse unterstützt.
Häusermann kritisiert die weit verbreitete Praxis scharf. Er ist überzeugt, dass Arbeitszeugnisse auch ohne Geheimsprache wohlwollend und wahr sein können. «Es gibt keine Menschen, die ausschliesslich schlecht und als komplette Versager einzustufen sind.»
Zeugnis als Ansporn für Mitarbeiter
Der Arbeitgeber solle deshalb in einem Zeugnis mit den Stärken des Arbeitnehmers beginnen, dann sachlich auf die Schwächen hinweisen – und schliesslich mit einem positiven Aspekt enden.
Die Schwächen sollten dabei möglichst so formuliert werden, dass für den Mitarbeiter ein Ansporn bestehe, es in Zukunft besser zu machen. «Wenn jemand regelmässig zu spät gekommen ist, kann man zum Beispiel schreiben: ‹Wir hätten uns erhofft, dass der Angestellte in Sachen Pünktlichkeit etwas mehr Zuverlässigkeit an den Tag gelegt hätte.›»
Diesen Lösungsvorschlägen zum Trotz ist nicht damit zu rechnen, dass codierte Arbeitszeugnisse in naher Zukunft verschwinden werden. Häusermann: «Das Grundproblem ist, dass die meisten Unternehmen Arbeitszeugnissen kaum Bedeutung zumessen.» Sie könnten nicht erkennen, dass uncodierte Arbeitszeugnisse allen Beteiligten mehr bringen als sprachliche Floskeln.
Held oder Sturkopf?
«Die Leidtragenden dieses unverantwortlichen Verhaltens sind immer die Arbeitnehmer», ist Häusermann überzeugt.
Und wie verhält sich das im Fall De Nicola? Ist der Unternehmer nun ein prinzipientreuer Held – oder doch eher ein krimineller Sturkopf? Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Das von ihm verfasste Arbeitszeugnis verstösst wohl gegen den Grundsatz des Wohlwollens. Andererseits dürfte die vom Gericht diktierte, ausschliesslich positive Mitarbeiter-Bewertung dem Prinzip der Wahrhaftigkeit widersprechen.
So oder so: De Nicola nimmt es gelassen. «Für mich zählt nur, dass ich mit mir im Reinen bin!» Er schlafe immer gut, versichert er.
* Name geändert