Frau Bandi Tanner, wohin gehen Sie diesen Sommer in die Ferien?
Mein Mann und ich haben uns entschieden, dieses Jahr in der Schweiz zu bleiben: Wir gehen ins Wallis in eine Berghütte. Wir haben einen
15 Monate alten Sohn – da ist es einfacher, nicht zu weit zu reisen.
Gehen Sie auch wegen Flug-scham nicht weiter weg?
Das ist nicht der Hauptgrund. Doch ich entscheide mich jeweils nur
in ausgewählten Situationen für einen Langstreckenflug und bleibe dann auch länger vor Ort.
Monika Bandi Tanner (36) ist seit 2012 Leiterin der Forschungsstelle Tourismus an der Universität Bern. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der Regionalentwicklung, der Erlebnisökonomie und dem Kulturtourismus. Die Bernerin analysiert unter anderem: Touristen in Kunstmuseen, die Gastfreundlichkeit in der Schweizer Hotellerie und die Bündner Tourismusreform der Jahre 2006 bis 2013. Monika Bandi Tanner ist verheiratet und hat einen Sohn.
Monika Bandi Tanner (36) ist seit 2012 Leiterin der Forschungsstelle Tourismus an der Universität Bern. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der Regionalentwicklung, der Erlebnisökonomie und dem Kulturtourismus. Die Bernerin analysiert unter anderem: Touristen in Kunstmuseen, die Gastfreundlichkeit in der Schweizer Hotellerie und die Bündner Tourismusreform der Jahre 2006 bis 2013. Monika Bandi Tanner ist verheiratet und hat einen Sohn.
Viele Schweizer reisen in den Sommerferien ans Meer. Weshalb meinen wir, uns in der Ferne besser erholen zu können?
Zum einen gibt es das Fluchtmotiv: Nur weg von hier! Man sucht dort den Gegenalltag. Zum anderen
das Entdeckermotiv: Wir fühlen uns von fernen Ländern angezogen, weil wir etwas anderes sehen möchten.
Zwei Urmotive, warum Menschen reisen.
Genau, aber sie sind immer noch sehr beständig. Ein Grossteil
sucht nach wie vor Erholung, Ruhe, Sonne, Partnerschaft, Natur, Kultur und Abwechslung.
Werden diese Bedürfnisse am Meer befriedigt?
Das hängt davon ab, was man sucht und wie man sich verhält: Wenn man immer mehr in dieselben Ferien packen will, ist es irgendwann nicht mehr sehr entspannend. Da klaffen Reiseabsicht und Reiseverhalten auseinander.
Wo zum Beispiel?
Touristen wollen frei sein, und trotzdem boomen Kreuzfahrten. Meine eigene Erfahrung zeigt:
Ich fühle mich auf einem solchen Schiff fremdbestimmt und gefangen. Gefangen! Und das erst noch freiwillig.
Menschen nehmen in den Ferien eben viel Unbill in Kauf.
Ein weiteres Beispiel dafür ist der Stau Richtung Süden vor dem Gotthard. Ferienverhalten hat viel mit Gewohnheiten zu tun.
Sind es andere Routinen als die im Alltag?
Man verhält sich oft ähnlich:
Wer im Alltag behäbig ist, der wird in den Ferien kaum sportlich. Andererseits sind die Alltagssportler auch in den Ferien aktiv – Untersuchungen zeigen diese Tendenz.
Aktiv- oder Passivferien sind auch in der Schweiz zu haben. Müsste man nicht versuchen,
die Schweizer Touristen im Land zu behalten?
Das ist ein wichtiges Ziel vom Schweizer Tourismus. Man ist sich bewusst, dass die Einheimischen über die Hälfte der Logiernächte generieren.
Bei den Hotelübernachtungen liegt der Anteil der Schweizer unter 50 Prozent.
Ja, aber wenn man Ferienwohnungen und Tagestourismus hinzu- nimmt, sind die Schweizer klar
die Nummer 1. Das Rückgrat
eines jeden Tourismuslandes ist
die eigene Bevölkerung.
In Ihrer Forschungsarbeit beschäftigten Sie sich mit der regionalen Tourismusentwicklung
im Berner Oberland. Womit will man dort etwa St. Galler und Solothurner anlocken?
Mit Attraktionen wie Hängebrücken oder Themen wie Sherlock Holmes. Heutzutage braucht es für Erlebnisse Orte mit Geschichten, denn im digitalen Zeitalter kann man höchstens noch den Inhalt prägen und nicht die Verteilung davon. Es muss etwas laufen.
Das klingt nach Stress und nicht mehr nach Ferien und Erholung.
Es kommt auf die Mischung an,
die man wählt. Die Trendforschung zeigt, dass Touristen Abwechslung suchen. Sie entscheiden am liebsten vor Ort, was sie machen wollen.
Lockt die Schweiz mit solchen Angeboten auch viele ausländische Touristen an?
Ja, mit den Abenteuerangeboten
in Interlaken etwa versucht man, amerikanische Gäste anzulocken. Die Jungfraubahn andererseits ist primär für asiatische Gäste eine Attraktion: Rund 70 Prozent der Fahrgäste kommen von dort.
Weshalb?
Die Jungfraubahn hat clevererweise schon in den 1990ern angefangen, ihren Berg in Asien
zu vermarkten.
Das heisst: Wenn man in New York Werbung für die Jungfraubahn machen würde, kämen vermehrt auch Amerikaner.
Es braucht sehr lange, einen solchen Brand aufzubauen, und Erfolg ist nicht garantiert.
Manche Touristen kommen absurderweise von weither, um im Berner Oberland ihre Heimat zu finden: Die Inder erkennen hier ihr Kaschmirgebiet, das sie wegen des Streits mit Pakistan nicht bereisen können.
Man sucht in den Ferien mitunter das Vertraute. Vertrautheit gibt Sicherheit. Das zeigt sich auch beim Essen: Asiaten, die die Schweiz bereisen, essen schon
mal ein Fondue, aber in der Regel essen sie hier ihre vertrauten Menüs und gehen auch sonst ihren Gewohnheiten nach. Dabei kann es zu Konflikten kommen.
Wie das?
Inder sind sich zum Beispiel gewohnt, in Gruppen in einem Zimmer zu schlafen. Das wollen
sie auch während der Ferien so halten. Aber dadurch kann es
zum Konflikt mit unserer Dienstleistungskultur kommen, denn hier ist man sich gewohnt, nur eine maximale Anzahl von Personen in einem Raum unterzubringen.
Macht das Reisen demzufolge nicht offener?
Die Konfrontation mit dem anderen führt sehr oft dazu, dass die Identifikation mit dem Eigenen gestärkt wird. Man sagt nicht selten: Ah, das ist ja nicht viel anders als bei uns. Dadurch integriert man dann das Andersartige und wird offener.
2018 verzeichnete die Schweizer Hotellerie eine Rekordzahl von 38,8 Millionen Logiernächten. Auf was führen Sie das zurück?
Stabile Zahlen bei Schweizer Gästen, wachsende Fernmärkte und eine Erholung bei den Nahmärkten wie Deutschland. Zu bedenken
ist aber, dass diese Zahl nicht aussagt, zu welchem Preis wir
sie erreicht haben. Musste man
die Preise senken? Das kann zu Hotelbetrieben mit schwacher Rentabilität und geringen Investi-tionen führen. Mäzene wie Sawiris in Andermatt oder Investoren aus Katar wie auf dem Bürgenstock sind dann willkommen.
Gibt es weitere Gründe für
das Rekordergebnis von 2018?
Ja, die Sicherheit. Eine eben abgeschlossene Doktorarbeit meiner Forschungsstelle kommt zum Schluss, dass islamistische Terroranschläge in Westeuropa gesamthaft keinen negativen Einfluss auf den Schweizer Tourismus haben. Europäische Gäste reisen statt
nach Frankreich in die Schweiz. Dafür meiden aber asiatische Gäste Europa grossräumig, die Schweiz inklusive. Terrorismus hemmt Tourismus nicht, er verschiebt ihn bloss regional, aber das je nach Herkunftsland unterschiedlich.
Und Touristen vergessen schnell wieder: Nach den Anschlägen
in Ägypten und Tunesien zog
die Reisewelle dorthin, auch von Schweizern, schnell wieder an. Nicht zuletzt wegen Billigflügen.
Kein Zweifel, die Mobilität ist zu günstig, sie hat die externen Kosten nicht im Preis abgebildet. Man muss sich schon fragen, weshalb Kerosin der einzige Treibstoff ist, auf den es keine Mineralölsteuer und CO₂-Abgabe gibt. Das ist ein globales Abkommen von 1945!
Muss sich das ändern?
Eine Lenkungssteuer ist durchaus angebracht. Denn im Tourismus sind Täter- und Opferrollen
nahe beieinander: Wir Schweizer leiden darunter, wenn etwa der Skisport in den Bergen wegen
des Klimawandels erschwerte Be-dingungen hat.
Wird Reisen dadurch zu einem Privileg der Reichen, wie zu Beginn des Tourismus im 19. Jahrhundert, als nur adlige Söhne Bildungsreisen machten?
Für das erdölbasierte Reisen dürfte es eine Konsequenz sein. Aber alternative Reisemöglichkeiten und -angebote könnten eine Lösung für die breite Bevölkerung bringen.
Ist Reisen ein Menschenrecht?
In den 1970er-Jahren gab es bei uns eine Demokratisierung des Reisens. Damals wurde es beinahe ein Menschenrecht: Lohnfortzahlung an Ferientagen und Reka-Checks, um zum Reisen zu animieren.
Wie hat sich unser Reiseverhalten seither verändert?
Wir wollen in den vier Ferienwochen viel mehr Bedürfnisse befriedigt haben als früher.
Das können im Winter Tauchferien auf den Malediven sein, und
im Sommer Wandern im kühlen hohen Norden.
Ist das heute noch vertretbar?
Aus einer globalen Sicht geht das nicht auf: Je mehr Chinesen und Inder zu Wohlstand kommen
und ebenfalls reisen, umso mehr nähern wir uns dem Kollaps – wenn wir Europäer und Amerikaner weiterhin so reisen.
Viele Tourismusregionen wünschen sich weniger, dafür kauffreudigere Touristen,
die länger an einem Ort bleiben.
Wie fördert man diese Spezies?
Die Anbieter versuchen, mit «Vier für drei Nächte»-Angeboten die Gäste zu halten. Aber nachhaltiger sind qualitativ hochwertige und dadurch teurere Angebote.
Gibt es Beispiele, wo das
geglückt ist?
Die Seychellen sind exklusiv und teuer. Man versucht, mit Qualität zu punkten, und anscheinend geht das Verhältnis Menge mal Preis auf.
Könnte sich die Schweiz ebenfalls so positionieren?
Unbedingt. Wir haben ein unglaubliches Potenzial für hochwertigen Tourismus, das wir anstelle von Masse fördern sollten. Und wenn man mehr Wertschöpfung mit den gleichen Touristen erreicht, käme man aus dem Wachstumsdilemma raus. Das wäre dann ein qualitatives Wachstum.
Helfen Eintrittsgebühren, wie sie Venedig plant, um der Touristenschwemme Herr zu werden?
Es ist ein regional möglicher
Weg, der das Problem aber eher
auf andere Destinationen verlegt.
Glauben Sie, dass wir wegen Flugscham künftig freiwillig
weniger weit, dafür länger
verreisen?
Auch wenn das momentan medial im Fokus steht und dadurch populär ist, bleibt es noch ein Wunschtraum. Und wenn wir Schweizer uns so verhielten, heisst das noch lange nicht, dass andere Länder nachzögen. Aber es ist deswegen nicht legitim, zu sagen: Wir machen nichts. Wir sollten uns dafür einsetzen. Wir können versuchen, verantwortungsvoller in die Ferien zu fahren, denn wir haben persönlich einen grossen Gewinn vom Reisen.
Der da wäre?
In erster Linie Regeneration. In der Industrialisierung stellte man fest, dass es gut ist, wenn Arbeiter am siebten Tag ruhen. Denn wenn sie ständig arbeiten, werden sie unproduktiv und sterben früher. Pausen sind also wichtig. Und Ferien sind solche Pausen. Zudem sind Ferien Sozialzeit, in der man mit anderen Menschen unterwegs ist.
Bald sind Sommerferien. Die Berner Tourismusexpertin Monika Bandi Tanner sagt, weshalb sie dann in die Berge geht, warum Schweizer gern ans Meer fahren und wie wir nachhaltiger reisen können.
Bald sind Sommerferien. Die Berner Tourismusexpertin Monika Bandi Tanner sagt, weshalb sie dann in die Berge geht, warum Schweizer gern ans Meer fahren und wie wir nachhaltiger reisen können.