«Trotz Flug-Scham sind Schweizer Weltmeister im fliegen»
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Tourismusforscherin:Schweizer sollen vermehrt in der Schweiz Ferien machen

Tourismus-Expertin weiss, wie Schweizer Ferien machen
«Touristen wollen frei sein, trotzdem boomen Kreuzfahrten»

Bald sind Sommerferien. Die Berner 
Tourismusexpertin Monika Bandi Tanner sagt, weshalb sie dann in die Berge geht, warum Schweizer gern ans Meer fahren 
und wie wir nachhaltiger reisen können.
Publiziert: 01.06.2019 um 23:49 Uhr
|
Aktualisiert: 24.01.2024 um 00:04 Uhr
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Chinesen in Luzern: «Je mehr Chinesen und Inder zu Wohlstand kommen und ebenfalls reisen, umso mehr nähern wir uns dem Kollaps», sagt die Schweizer Tourismus-Expertin Monika Bandi.
Foto: Anian Heierli
Daniel Arnet

Frau Bandi Tanner, wohin gehen Sie diesen ­Sommer in die Ferien?
Mein Mann und ich ­haben uns entschieden, dieses Jahr in der Schweiz zu ­bleiben: Wir gehen ins Wallis in eine Berghütte. Wir haben einen 
15 Monate alten Sohn – da ist es einfacher, nicht zu weit zu reisen.

Gehen Sie auch wegen Flug-scham nicht weiter weg?
Das ist nicht der Hauptgrund. Doch ich entscheide mich jeweils nur 
in ausgewählten Situationen für ­einen Langstreckenflug und bleibe dann auch länger vor Ort.

Sie weiss alles über Ferien

Monika Bandi Tanner (36) ist 
seit 2012 Leiterin der Forschungs­stelle Tourismus an der Universität Bern. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der Regionalentwicklung, der ­Erlebnisökonomie und dem Kultur­tourismus. Die ­Bernerin analysiert unter anderem: Touristen in Kunstmuseen, die Gastfreundlichkeit 
in der Schweizer Hotellerie und 
die Bündner 
Tourismusreform der Jahre 2006 bis 2013. Monika 
Bandi Tanner ist verheiratet und hat einen Sohn.

Monika Bandi Tanner (36) ist 
seit 2012 Leiterin der Forschungs­stelle Tourismus an der Universität Bern. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der Regionalentwicklung, der ­Erlebnisökonomie und dem Kultur­tourismus. Die ­Bernerin analysiert unter anderem: Touristen in Kunstmuseen, die Gastfreundlichkeit 
in der Schweizer Hotellerie und 
die Bündner 
Tourismusreform der Jahre 2006 bis 2013. Monika 
Bandi Tanner ist verheiratet und hat einen Sohn.

Viele Schweizer reisen in den Sommerferien ans Meer. ­Weshalb meinen wir, uns in der Ferne besser erholen zu können?
Zum einen gibt es das Fluchtmotiv: Nur weg von hier! Man sucht dort den Gegenalltag. Zum anderen 
das Entdeckermotiv: Wir fühlen uns von fernen Ländern angezogen, weil wir etwas anderes sehen möchten.

Zwei Urmotive, warum ­Menschen reisen.
Genau, aber sie sind immer noch sehr beständig. Ein Grossteil 
sucht nach wie vor Erholung, Ruhe, Sonne, Partnerschaft, Natur, ­Kultur und Abwechslung.

Werden diese Bedürfnisse am Meer befriedigt?
Das hängt davon ab, was man sucht und wie man sich verhält: Wenn man immer mehr in dieselben ­Ferien packen will, ist es irgendwann nicht mehr sehr entspannend. Da klaffen Reiseabsicht und Reiseverhalten auseinander.

Wo zum Beispiel?
Touristen wollen frei sein, und trotzdem boomen Kreuzfahrten. Meine eigene Erfahrung zeigt: 
Ich fühle mich auf einem solchen Schiff fremdbestimmt und gefangen. Gefangen! Und das erst noch freiwillig.

Menschen nehmen in den Ferien eben viel Unbill in Kauf.
Ein weiteres Beispiel dafür ist der Stau Richtung Süden vor dem Gotthard. Ferienverhalten hat viel mit Gewohnheiten zu tun.

Sind es andere Routinen als die im Alltag?
Man verhält sich oft ähnlich: 
Wer im Alltag behäbig ist, der wird in den Ferien kaum sportlich. ­Andererseits sind die Alltagssportler auch in den Ferien aktiv – Unter­suchungen zeigen diese Tendenz.

Aktiv- oder Passivferien sind auch in der Schweiz zu haben. Müsste man nicht versuchen, 
die Schweizer Touristen im Land zu behalten?
Das ist ein wichtiges Ziel vom Schweizer Tourismus. Man ist sich bewusst, dass die Einheimischen über die Hälfte der Logiernächte generieren.

Bei den Hotelübernachtungen liegt der Anteil der Schweizer unter 50 Prozent.
Ja, aber wenn man Ferienwohnungen und Tagestourismus hinzu- nimmt, sind die Schweizer klar 
die Nummer 1. Das Rückgrat 
eines jeden Tourismuslandes ist 
die eigene Bevölkerung.

In Ihrer Forschungsarbeit beschäftigten Sie sich mit der regio­nalen Tourismusentwicklung 
im Berner Oberland. Womit will man dort etwa St. Galler und ­Solothurner anlocken?
Mit Attraktionen wie Hänge­brücken oder Themen wie Sherlock Holmes. Heutzutage braucht es für Erlebnisse Orte mit Geschichten, denn im digitalen Zeitalter kann man höchstens noch den Inhalt ­prägen und nicht die Verteilung ­davon. Es muss etwas laufen.

Das klingt nach Stress und nicht mehr nach Ferien und Erholung.
Es kommt auf die Mischung an, 
die man wählt. Die Trendforschung zeigt, dass Touristen Abwechslung suchen. Sie entscheiden am liebsten vor Ort, was sie machen wollen.

Lockt die Schweiz mit solchen Angeboten auch viele ausländische Touristen an?
Ja, mit den Abenteuerangeboten 
in Interlaken etwa versucht man, amerikanische Gäste anzulocken. Die Jungfraubahn andererseits ist primär für asiatische Gäste eine ­Attraktion: Rund 70 Prozent der Fahrgäste kommen von dort.

Weshalb?
Die Jungfraubahn hat cleverer­weise schon in den 1990ern ­angefangen, ihren Berg in Asien 
zu vermarkten.

Das heisst: Wenn man in New York Werbung für die Jungfraubahn machen würde, kämen ­vermehrt auch Amerikaner.
Es braucht sehr lange, einen ­solchen Brand aufzubauen, und ­Erfolg ist nicht garantiert.

Manche Touristen kommen ­absurderweise von weither, um im Berner Oberland ihre Heimat zu finden: Die Inder erkennen hier ihr Kaschmirgebiet, das sie wegen des Streits mit Pakistan nicht bereisen können.
Man sucht in den Ferien mitunter das Vertraute. Vertrautheit gibt ­Sicherheit. Das zeigt sich auch beim Essen: Asiaten, die die Schweiz bereisen, essen schon 
mal ein Fondue, aber in der Regel essen sie hier ihre vertrauten ­Menüs und gehen auch sonst ihren Gewohnheiten nach. Dabei kann es zu Konflikten kommen.

Wie das?
Inder sind sich zum Beispiel ­gewohnt, in Gruppen in einem Zimmer zu schlafen. Das wollen 
sie auch während der Ferien so ­halten. Aber dadurch kann es 
zum Konflikt mit unserer Dienstleistungskultur kommen, denn hier ist man sich gewohnt, nur eine ­maximale Anzahl von Personen in einem Raum unterzubringen.

Macht das Reisen demzufolge nicht offener?
Die Konfrontation mit dem anderen führt sehr oft dazu, dass die Identifikation mit dem Eigenen ­gestärkt wird. Man sagt nicht ­selten: Ah, das ist ja nicht viel anders als bei uns. Dadurch integriert man dann das Andersartige und wird offener.

2018 verzeichnete die Schweizer Hotellerie eine Rekordzahl von 38,8 Millionen Logiernächten. Auf was führen Sie das zurück?
Stabile Zahlen bei Schweizer Gästen, wachsende Fernmärkte und eine Erholung bei den Nahmärkten wie Deutschland. Zu bedenken 
ist aber, dass diese Zahl nicht ­aussagt, zu welchem Preis wir 
sie erreicht haben. Musste man 
die Preise senken? Das kann zu ­Hotelbetrieben mit schwacher ­Rentabilität und geringen Investi-tionen führen. Mäzene wie Sawiris in Andermatt oder Investoren aus Katar wie auf dem Bürgenstock sind dann willkommen.

Gibt es weitere Gründe für 
das Rekordergebnis von 2018?
Ja, die Sicherheit. Eine eben abgeschlossene Doktorarbeit meiner Forschungsstelle kommt zum Schluss, dass islamistische Terroranschläge in Westeuropa gesamthaft keinen negativen Einfluss auf den Schweizer Tourismus haben. Europäische Gäste reisen statt 
nach Frankreich in die Schweiz. Dafür meiden aber asiatische ­Gäste Europa grossräumig, die Schweiz inklusive. Terrorismus hemmt ­Tourismus nicht, er verschiebt ihn bloss regional, aber das je nach Herkunftsland unterschiedlich.

Und Touristen vergessen schnell wieder: Nach den Anschlägen 
in Ägypten und Tunesien zog 
die Reisewelle dorthin, auch von Schweizern, schnell wieder an. Nicht zuletzt wegen Billigflügen.
Kein Zweifel, die Mobilität ist zu günstig, sie hat die externen Kosten nicht im Preis abgebildet. Man muss sich schon fragen, weshalb Kerosin der einzige Treibstoff ist, auf den es keine Mineralölsteuer und CO₂-Abgabe gibt. Das ist ein globales Abkommen von 1945!

Muss sich das ändern?
Eine Lenkungssteuer ist durchaus angebracht. Denn im Tourismus sind Täter- und Opferrollen 
nahe beieinander: Wir Schweizer leiden darunter, wenn etwa der Skisport in den Bergen wegen 
des ­Klimawandels erschwerte Be-dingungen hat.

Wird Reisen dadurch zu einem Privileg der Reichen, wie zu Beginn des Tourismus im 19. Jahrhundert, als nur adlige Söhne ­Bildungsreisen machten?
Für das erdölbasierte Reisen ­dürfte es eine Konsequenz sein. Aber ­alternative Reisemöglichkeiten und -angebote könnten eine Lösung für die breite Bevölkerung bringen.

Ist Reisen ein Menschenrecht?
In den 1970er-Jahren gab es bei uns eine Demokratisierung des ­Reisens. Damals wurde es beinahe ein ­Menschenrecht: Lohnfortzahlung an Ferientagen und Reka-Checks, um zum Reisen zu animieren.

Wie hat sich unser Reiseverhalten seither verändert?
Wir wollen in den vier Ferien­wochen viel mehr Bedürfnisse ­befriedigt haben als früher. 
Das können im Winter Tauchferien auf den Malediven sein, und 
im Sommer Wandern im kühlen hohen Norden.

Ist das heute noch vertretbar?
Aus einer globalen Sicht geht das nicht auf: Je mehr Chinesen und ­Inder zu Wohlstand kommen 
und ebenfalls reisen, umso mehr ­nähern wir uns dem Kollaps – wenn wir Europäer und Amerikaner ­weiterhin so reisen.

Viele Tourismusregionen ­wünschen sich weniger, dafür ­kauffreudigere Touristen, 
die ­länger an einem Ort bleiben. 
Wie fördert man diese Spezies?
Die Anbieter versuchen, mit «Vier für drei Nächte»-Angeboten die Gäste zu halten. Aber nachhaltiger sind qualitativ hochwertige und ­dadurch teurere Angebote.

Gibt es Beispiele, wo das
geglückt ist?
Die Seychellen sind exklusiv und teuer. Man versucht, mit Qualität zu punkten, und anscheinend geht das Verhältnis Menge mal Preis auf.

Könnte sich die Schweiz ­ebenfalls so positionieren?
Unbedingt. Wir haben ein unglaubliches Potenzial für hochwertigen Tourismus, das wir anstelle von Masse fördern sollten. Und wenn man mehr Wertschöpfung mit den gleichen Touristen erreicht, käme man aus dem Wachstumsdilemma raus. Das wäre dann ein qualitatives Wachstum.

Helfen Eintrittsgebühren, wie sie Venedig plant, um der Touristenschwemme Herr zu werden?
Es ist ein regional möglicher 
Weg, der das Problem aber eher 
auf andere Destinationen verlegt.

Glauben Sie, dass wir wegen Flugscham künftig freiwillig 
weniger weit, dafür länger 
verreisen?
Auch wenn das momentan medial im Fokus steht und dadurch populär ist, bleibt es noch ein Wunschtraum. Und wenn wir Schweizer uns so verhielten, heisst das noch lange nicht, dass andere Länder nachzögen. Aber es ist deswegen nicht legitim, zu sagen: Wir machen nichts. Wir sollten uns dafür einsetzen. Wir können versuchen, verantwortungsvoller in die Ferien zu fahren, denn wir haben persönlich ­einen grossen Gewinn vom Reisen.

Der da wäre?
In erster Linie Regeneration. In der Industrialisierung stellte man fest, dass es gut ist, wenn Arbeiter am siebten Tag ruhen. Denn wenn sie ständig arbeiten, werden sie unproduktiv und sterben früher. Pausen sind also wichtig. Und Ferien sind solche Pausen. Zudem sind Ferien Sozialzeit, in der man mit anderen Menschen unterwegs ist.

So verhalten sich Schweizer in den Sommerferien

Bald sind Sommerferien. Die Berner 
Tourismusexpertin Monika Bandi Tanner sagt, weshalb sie dann in die Berge geht, warum Schweizer gern ans Meer fahren 
und wie wir nachhaltiger reisen können.

Bald sind Sommerferien. Die Berner 
Tourismusexpertin Monika Bandi Tanner sagt, weshalb sie dann in die Berge geht, warum Schweizer gern ans Meer fahren 
und wie wir nachhaltiger reisen können.

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