Swiss-Life- und Adecco-Präsident Rolf Dörig zu Verhandlungen mit der EU
«Wir lassen uns von Brüssel vorführen!»

Der Präsident von Arbeitsvermittler Adecco und Lebensversicherer Swiss Life fällt immer wieder durch unbequeme Positionen auf. Im Interview erklärt Rolf Dörig, warum die Schweiz die bilateralen Verträge nicht über alles stellen sollte, wie sich unsere Jobs verändern und wie die Renten langfristig gesichert werden können.
Publiziert: 28.01.2018 um 23:47 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 18:31 Uhr
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Rolf Dörig ist einer der mächtigsten Wirtschaftsführer der Schweiz.
Foto: STEFAN BOHRER
Christian Dorer

Rolf Dörig gehört zu den einflussreichsten Wirtschaftsvertretern des Landes – und zu den diskreteren. Selten gibt er Interviews, am WEF in Davos machte er für BLICK eine Ausnahme.

Wenn er aber öffentlich spricht, dann tanzt er gerne aus der Reihe. Denn Dörig hat unkonventionelle Ansichten, gerne kritisiert er Politik und Wirtschaft als zu weit weg von den Menschen. So auch heute. 

BLICK: Herr Dörig, Sie bezeichnen Schweizer Politiker gern als zu zögerlich. Hat Ihnen der Auftritt von Donald Trump gefallen?
Rolf Dörig: Ja, sein selbstbewusstes Auftreten! Auch die Schweiz müsste ihre Interessen vehementer vertreten. Wir sind ein starkes, erfolgreiches und selbstbestimmtes Land. Aber wir führen uns überall als Bittsteller oder gar Befehlsempfänger auf – etwa gegenüber der EU.

Die Schweiz ist ja auch Bittsteller: Wir wollen freien Zugang zum EU-Markt.
Da muss man differenzieren. Die Versicherungsbranche will und braucht kein Finanzdienstleistungsabkommen. Einzelne Privatbanken brauchen ein Abkommen, Grossbanken nicht. Nur für den Marktzugang müssen wir nicht alles akzeptieren.

Bestreiten Sie, dass die bilateralen Verträge für die Schweiz überlebenswichtig sind?
Der EU-Markt ist für uns sehr wichtig. Wenn wir die Handelsbilanzen betrachten, ist die Schweiz kein kleiner, sondern ein starker Partner der EU. Wir brauchen gegenseitig gute Beziehungen. Und trotzdem lassen wir uns von Brüssel vorführen. Manche Bürokraten in Brüssel wollen nicht verstehen, wie die Schweiz funktioniert – nicht unsere direkte Demokratie, nicht die Bevölkerung.

Wie soll sich die Schweiz gegenüber der EU verhalten?
Endlich aufhören mit der unsäglichen Kakofonie! Täglich werden den Medien neuen Ideen präsentiert. So blockieren und zerfleischen wir uns selbst. Unsere Regierung aber muss mit einer Stimme sprechen und eine klare Strategie formulieren. Deshalb bin ich für einen Marschhalt: in Ruhe alles überdenken und zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Es besteht keine Eile. Zuerst soll die EU ihre Hausaufgaben lösen und wir unsere.

Ist es nicht naiv zu glauben, die Schweiz könne der EU befehlen, was sie zu tun hat?
Inzwischen hat jeder erkannt, dass Brüssel an den Bedürfnissen der Menschen vorbeipolitisiert. Ohne zu spüren, wie die Menschen in den einzelnen Ländern ticken. Schauen Sie, was in Ungarn, Polen und Österreich passiert! Aber auch der Brexit ist eine Folge davon. Reformen wären dringend nötig, und es herrscht Konsens, dass die EU den Ländern mehr Autonomie geben muss, wenn sie überleben will. Fragen Sie einen Deutschen oder Franzosen, woher er kommt: Er antwortet immer mit Frankreich oder Deutschland. Niemand sagt, er sei Europäer. Eine politisch zentral geführte Union funktioniert nicht. Wenn sich aber die EU in Richtung Wirtschaftsunion bewegt, dann ist das auch für die Schweiz ein Modell. Grossbritannien wird das erste Beispiel sein.

Alle Involvierten sagen: Der Brexit verschlechtert die Situation für die Schweiz, weil die EU uns nichts zugestehen kann, was sie nicht auch den Briten gibt.
Warten wir ab, wie der Brexit umgesetzt wird. Dann haben wir eine klare Ausgangslage. Darum sage ich: Wir haben keine Eile. Unser neuer Aussenminister Ignazio Cassis hat zu Recht gesagt, dass er gemeinsam den Reset-Knopf drücken will. Nun verstehe ich aber nicht, weshalb er sich plötzlich von der EU drängen lassen soll.

Weil die bilateralen Verträge gefährdet sind.
Ich sehe den Wert der Bilateralen. Trotzdem darf man sie nicht über alles stellen und dafür alles akzeptieren. Wenn wir nur das Mantra der Bilateralen predigen und der EU in Bücklingshaltung entgegentreten, müssten wir die Bevölkerung ehrlich fragen: EU-Beitritt – ja oder nein? Am Schluss kommt es auf dasselbe hinaus.

Sie hatten das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative begrüsst. Sehen Sie das heute auch noch so?
Das Ja an der Urne hat dazu geführt, dass wir uns endlich fragen, wie viele Einwohner die Schweiz haben soll. Elf oder zwölf Millionen sind möglich, wenn wir überall in die Höhe bauen und die Infrastruktur ausbauen. Wollen wir das?

Aus heutiger Sicht war die Initiative überflüssig: Die Zuwanderung aus der EU ist von alleine von 57‘000 auf 30’000 Personen gesunken. Unruhe für nichts?
Sie hat die Sorgen unserer Bevölkerung aufgenommen. Politik und Wirtschaft müssen sich stärker um die Sorgen der Menschen kümmern. Das war bei der Zuwanderung nicht Fall. Die Personenfreizügigkeit ist eine Niederlassungsfreiheit.

Das Stimmvolk hat sowohl Ja gesagt zu den Bilateralen als auch zur Beschränkung der Zuwanderung. Ein Widerspruch! Braucht es eine Grundsatzabstimmung?
Der Konflikt besteht nur wegen der Guillotineklausel: dass also alle bilateralen Verträge fallen, wenn die Personenfreizügigkeit fällt. Diesen Konflikt müssen wir lösen. Wir wollen einen engen Austausch mit der EU und die EU mit uns. Unsere Wirtschaft braucht Fachkräfte. Gleichzeitig wollen wir die Zuwanderung steuern können. Das ist legitim und nicht nur für die Schweiz. Für diese Position müssen wir uns gemeinsam einsetzen.

Auch Sie wissen: Die EU hat unbehandelbare Regeln – und dazu gehört die Personenfreizügigkeit.
Die EU aber hat ebenso ein Interesse an einem wirtschaftlich starken Europa, und zwar inklusive der Schweiz. Sonst wird Europa zwischen China und den USA zerrieben. Nochmals: Ich wünschte mir eine klare Strategie, ein abgestimmtes Vorgehen, mehr Kampfeswille und weniger Bückling. Einfach auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Die Schweiz hat der EU sehr viel zu bieten.

Sind Sie immer noch bei den «Freunden der FDP»?
Nein.

Warum nicht?
Die FDP agierte eine zeitlang zu opportunistisch. Ich wünsche mir eine engere Zusammenarbeit zwischen SVP und FDP, anstatt dass sie sich gegenseitig bekämpfen. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie, wenn wir mit der EU erfolgreich verhandeln und unser Land weiterbringen wollen.

Sind Sie für No Billag?
Ich bin für eine staatliche Radio- und Fernsehgesellschaft. Trotzdem überlege ich mir, Ja zu stimmen, um ein Zeichen zu setzen. Denn die SRG ist heute viel zu teuer. Mit der Billag wird eine Steuer erhoben, über deren Höhe wir nicht abstimmen können. Schade, gibt es keinen Gegenvorschlag, der die Halbierung verlangt!

Bei einem Ja gibt es überhaupt keine SRG mehr.
Dazu wird es nicht kommen. Meine Befürchtung ist vielmehr, dass nach einem deutlichen Nein nichts passiert und notwendige Reformen ausbleiben.

Und falls es doch ein Ja gibt, weil viele ein Zeichen setzen wollen?
Es gibt immer Wege. Der Service public in der Schweiz ist sehr wichtig. Ich würde nie einer vollen Privatisierung der Swisscom, der SBB oder der Autobahnen zustimmen. Hätte sich die SRG reformiert, würde es jetzt auch keine No-Billag-Abstimmung geben.

Im aktuellen Sorgenbarometer steht die Rentensicherheit zuoberst. Warum sinkt der Umwandlungssatz, während die Pensionskassen dank Börsenboom satte Renditen machen?
Das ist eine Momentaufnahme. Die Stimmung an den Finanzmärkten kann rasch kippen. Und dann können viele Pensionskassen wieder in eine Unterdeckung rutschen. Die demografische Entwicklung ist klar: Es wird immer mehr Rentner geben, wir werden immer älter, und immer weniger zahlen ein. Das führt zu Finanzierungslücken.

Das Volk hat die grosse Altersreform von Sozialminister Alain Berset abgelehnt, obwohl sie ausgewogen war. Warum soll jetzt eine neue Variante plötzlich mehrheitsfähig sein?
Weil die vielen Kompromisse genau das Problem waren und man die Stimmbürger mit punktuellen Ausbauten kaufen wollte. Man sollte ihnen aber reinen Wein einschenken: Wenn wir unsere Vorsorge sichern wollen, müssen wir mehr in die Kassen einzahlen, länger arbeiten oder kleinere Renten akzeptieren. 

Eben: Genau das will niemand.
Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Sonst leben wir noch stärker auf Kosten der kommenden Generationen. Es ist völlig klar: Wenn wir 100 Jahre alt werden, müssen wir je nach Beruf bis 70 oder länger arbeiten.

Wie soll das gehen, wenn bereits 55-Jährige keinen Job mehr finden?
Die Wirtschaft wird mit dem demografischen Wandel nicht mehr genug Arbeitnehmer finden, wenn sie nicht stärker auf Ältere setzt. Gleichzeitig brauchen wir mehr Flexibilität bei den Arbeitsmodellen. Ältere Arbeitnehmer dürfen nicht immer teurer werden. Wir müssen neue Modelle prüfen: dass sich Menschen pensionieren lassen und weiterarbeiten. So fallen die Pensionskassenbeiträge weg. Wenn man den Willen hat, findet man gemeinsam tragfähige Lösungen für alle. 

Die Digitalisierung verändert fast alle Berufe radikal. Werden gleich viele neue Jobs geschaffen wie alte wegfallen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Aber es findet ein tief greifender Wandel statt. Repetitive, einfache Arbeiten sind speziell gefährdet, aber nicht nur. Man kann eine Verkäuferin an der Kasse nicht im Handumdrehen zu einer Programmiererin umschulen. Deshalb brauchen wir eine gross angelegte Bildungsoffensive, und zwar so rasch wie möglich. Unsere Arbeitnehmer müssen fit für die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts sein. Je schneller Politik, Firmen und Schulen handeln, desto geringer ist das Risiko von Arbeitslosigkeit.

Was soll jemand lernen, damit es seinen Job noch lange gibt?
Es ist ein Trugschluss zu meinen, wir bräuchten nur noch Mathematiker, IT-Spezialisten und Programmierer. Die Pflege von alten Menschen beispielsweise wird immer wichtiger und bestimmt nicht so schnell durch einen Roboter ersetzt.

Sie sind optimistisch!
Ja. Derzeit gibt es einen riesigen Digitalisierungshype. Alles dreht sich nur noch um Technologieplattformen. Dabei wissen wir nicht, ob es Facebook und Co. in zehn Jahren so noch gibt. Gleichzeitig gibt es heute in Europa acht Millionen offene Stellen und in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder in Tschechien historisch tiefe Arbeitslosenquoten.

Was raten Sie als oberster Arbeitsvermittler: Was ist das Geheimnis einer guten Bewerbung?
Aufmerksamkeit erwecken! So geht man im Stapel nicht unter. Die Zeiten sind vorbei, in der die Personalabteilungen nur auf Abschlüsse und Noten schauten. Die Sozialkompetenzen und lebenslanges Lernen werden immer wichtiger.

Allrounder

Rolf Dörig (60) ist Präsident von Adecco und von Swiss Life, also des weltgrössten Arbeitsvermittlers und des grössten Schweizer Lebensversicherers. Er gehört dem Vorstandsausschuss von Economiesuisse an und hat weitere Verwaltungsratsmandate: u. a. bei Dormakaba, Danzer und Emil Frey. Dörig hat ein Anwaltspatent, war früher Chef von Credit Suisse Schweiz und Swiss Life. Er ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.

Rolf Dörig (60) ist Präsident von Adecco und von Swiss Life, also des weltgrössten Arbeitsvermittlers und des grössten Schweizer Lebensversicherers. Er gehört dem Vorstandsausschuss von Economiesuisse an und hat weitere Verwaltungsratsmandate: u. a. bei Dormakaba, Danzer und Emil Frey. Dörig hat ein Anwaltspatent, war früher Chef von Credit Suisse Schweiz und Swiss Life. Er ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.

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