Steuern brechen vielen das Genick
Schuldenfalle Staat

Jede fünfte Betreibung in der Schweiz wird wegen ausstehender Steuern eingeleitet. In einigen Kantonen wird im Schnitt jedem siebten Steuerpflichtigen eine Betreibung hinterhergeschickt.
Publiziert: 21.04.2018 um 23:52 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2018 um 12:09 Uhr
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Viele von uns versinken in einem Meer von Rechnungen und Mahnungen. Auch wegen der Steuern.
Foto: Lily Metzker
Harry Büsser und Thomas Schlittler

Wenn man Adrian S.* (45) fragt, wie er in die Schuldenfalle geraten sei, sagt er: «Ein Brandunfall, das Cheminée ist explodiert.»

Natürlich steht nicht vor jeder Betreibung eine Explosion. Doch für viele Schweizer fühlt es sich so an. Für sehr, sehr viele: Rund 600'000 von ihnen sind überschuldet.

Gemäss Sébastien Mercier hängt die Verschuldungsproblematik eng mit dem Inkasso der Steuern zusammen. Der Geschäftsleiter des Vereins Schuldenberatung Schweiz: «Von den Leuten, die überschuldet sind, haben rund 80 Prozent Steuerschulden.»

Das Berner Forschungsbüro Ecoplan kam bereits 2016 zum Schluss, dass Betreibungen aus Steuerschulden in den meisten Kantonen rund 20 Prozent aller Fälle ausmachen.

Dass diese Zahlen nicht gottgegeben sind, zeigt ein Blick nach Deutschland. Dort ist der Staat nicht einer der grössten Gläubiger – denn die Steuern werden direkt vom Lohn abgezogen.

Wenn einen das Schicksal trifft

«Die Mehrheit der Überschuldungsfälle ist mit ­einem unvorhersehbaren Ereignis verknüpft: Jobverlust, Scheidung oder Krankheit», erklärt Schuldenberater Mercier. So wie bei Ad­rian S. Der gelernte Koch arbeitete jahrelang in einer Metzgerei. Eines Tages erhielt er die Schockdiagnose: Morbus Crohn, eine chronische Darmerkrankung. S. konnte nicht länger als Metzger arbeiten.

Er lässt sich nicht unterkriegen, macht eine Umschulung zum Lageristen und hat seine Finanzen nach wie vor im Griff. Zwei Jahre später der nächste Tiefschlag: S. legt im Cheminée ein Scheit nach, es explodiert, die Hälfte seines Körpers steht in Flammen. Ursache: Harz im Holz.

S. muss ins Spital. Danach ist er zwei Monate zu Hause, um sich zu erholen. Die Rechnungen beginnen sich zu türmen. Darunter auch die Steuerrechnung.

In der Schweiz werden Steuerrechnungen häufig nicht bezahlt. Eine Umfrage von SonntagsBlick in den Kantonen zeigt, welches Ausmass diese Problematik teilweise angenommen hat: Im Kanton Neuenburg gab es 2017 beispielsweise 120'505 Steuerpflichtige – die kantonale Steuerverwaltung für das Inkasso der Kantons-, Gemeinde- und Bundessteuern leitete 17'677 Betreibungen ein.

Einzelne Steuerpflichtige können für mehrere Betreibungen verantwortlich sein. Im Schnitt aber folgten auf 1000 Steuerpflichtige 147 Betreibungen. Durchschnittlich schickte der Kanton Neuenburg also jedem siebten Steuerpflichtigen eine Betreibung. In Genf (146 Betreibungen auf 1000 Steuerpflichtige), Freiburg (126 auf 1000) und Bern (95 auf 1000) sprechen die Zahlen ebenfalls für sich (siehe Tabelle).

Diese Zahlen verraten nur ­einen Teil der erschreckenden Wahrheit – denn all jene, die eine Steuerbetreibung mittels Privatkredit verhindern konnten, sind darin nicht enthalten. Auch das sind nicht wenige: Der Vergleichsdienst Comparis hat auf Anfrage von SonntagsBlick rund 100'000 Kreditanfragen der Jahre 2014 bis 2017 ausgewertet.

Ergebnis: Rund drei Prozent aller Kreditanfragen werden gestellt, um Steuern zahlen zu können. Im Durchschnitt beziehen die Betroffenen 17'700 Franken zur Tilgung ihrer Steuerschulden.

Steuerschulden steigen und steigen

Fachleute überrascht das nicht. Für sie ist klar: Steuerschulden sind besonders gefährlich. Sébastien Mercier von der Schuldenberatung Schweiz: «Während andere Schulden über die Jahre tendenziell abnehmen, nehmen Steuerschulden über die Jahre zu.» Ein Grund dafür sei die Tatsache, dass bei Lohnpfändungen die laufenden Steuern nicht einkalkuliert würden. «So wächst der Schuldenberg von Privatpersonen trotz Lohnpfändung weiter an», sagt Mercier.

Schuldenberater fordern deshalb seit Jahren, dass die Einkommenssteuern direkt vom Lohn abgezogen und die laufenden Steuern bei der Berechnung des Existenzminimums mit einbezogen werden sollen. Für einen direkten Steuerabzug konnte sich bis jetzt nie eine politische Mehrheit erwärmen. Zuletzt wurde eine entsprechende Motion Ende 2017 im Grossen Rat von Basel-Stadt abgelehnt – mit einer einzigen Stimme Mehrheit.

Bei der Berechnung des Existenzminimums jedoch gibt es seit kurzem einen Hoffnungsschimmer: Im März 2018 hat der Bundesrat einen Bericht über die Anpassung des Sanierungsverfahrens für Privatpersonen publiziert. Darin heisst es: «Da das Ziel eines neuen Verfahrens die Sanierung privater Schuldner wäre, muss der pfändbare Teil des Einkommens so definiert werden, dass der Schuldner auch wirklich saniert werden kann.»

Gehören zum Existenzminimum auch Steuern?

Anbieten würde sich laut diesem Bericht eine Form des sogenannten erweiterten Existenzminimums. «Einzubeziehen wären demzufolge die laufenden Steuern», heisst es in dem Papier wörtlich.

Für viele Tausende wäre das eine grosse Erleichterung. Sie haben genug Probleme, in der Schuldenfalle zu überleben – auch ohne Furcht vor einer stetig wachsenden Steuerschuld.

Adrian S. allerdings hat wenig Hoffnung auf eine baldige Besserung seiner Notlage. Zwar erhält er Unterstützung durch seine Familie: Der Bruder organisierte seine Finanzen, stellte ein Darlehen zur Verfügung, telefoniert immer wieder mit Gläubigern und Ämtern.

Dank des zinslosen Darlehens und eines Abzahlungsvertrags für seine Steuerschulden ist S. eine Betreibung seitens des Staates erspart geblieben. Und – Glück im Unglück – ein Freund, der Lagerchef bei ­einem Grossverteiler ist, verschafft ihm gelegentlich eine temporäre Arbeitsmöglichkeit.

Doch das reicht nicht, um neben den Steuern weitere Schulden abzuzahlen. Derzeit wartet S. auf den Entscheid der Invalidenversicherung, ob er zu 50 Prozent als arbeitsunfähig taxiert wird. Im August wird er ausgesteuert. Dann kommt kein Geld mehr von der Arbeitslosenversicherung.

* Name der Redaktion bekannt

Die Schweiz bestraft Menschen, weil sie arm sind

Ein Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty

Schulden: Kein anderes Wort ist moralisch derart aufgeladen. Als ob «Schuld» allein nicht genug wäre, kommt sie in «Schulden» sozusagen gleich in der Mehrzahl daher.

Generell schwingt ein Vorwurf der Verschwendung mit, wenn von Schulden die Rede ist.

«Schulden lassen die Lügen hinter sich aufsitzen», lautet ein Sprichwort. Oder, ganz schlicht: «Schuldner sind Lügner.»

Das ist natürlich alles Quatsch. Und zwar in zweifacher Hinsicht.

Erstens: Schulden sind grundsätzlich eine gute Sache. Unsere Wirtschaft wäre ohne sie undenkbar. «Kredit» ist nicht bloss der positive Begriff für Schulden. Er ist die Basis des modernen Kapitalismus.

Dabei geht es nicht nur um teure Infrastrukturprojekte, die sich ohne Vorschuss kaum finanzieren lassen. Der Historiker Frank Trentmann erzählt in seinem wunderbaren Buch «Herrschaft der Dinge» die Kulturgeschichte des Konsums. Darin berichtet er, wie ein New Yorker Möbelhaus vor 200 Jahren den Ratenkauf erfand. «Der Ratenkredit verwandelte die Massenproduktion in Massenkonsum», schreibt Trentmann.

Der zweite Irrtum, wenn über Schulden gesprochen wird, betrifft die Person des Schuldners.

Zunächst ist es ja so, dass die Mehrheit keine Mühe bekundet, ihre Schulden zu begleichen. Die Ausfallrate bei Krediten ist minim. Daran hat weder der Kreditkarten-Boom noch der Onlinehandel etwas geändert.

Und doch ist Überschuldung ein Problem. Für jeden Betroffenen bedeutet sie eine Katastrophe. Unserer Gesellschaft wiederum stellt sie oft ein Armutszeugnis aus. Denn meist sind eben nicht Verschwendung und blinde Konsumwut die Ursache von Überschuldung. Schuld sind in aller Regel prekäre Arbeitsverhältnisse und miese Löhne, Krankheit und Scheidung.

Am häufigsten geraten alleinerziehende Mütter in die Schuldenspirale.

Es ist darum falsch, die Verschuldung als moralisches Problem abzutun. Es ist für gewöhnlich falsch, Menschen mit Schulden für ihre Not verantwortlich zu machen.

Genau dies passiert jedoch.

In Münchenstein lebt eine alleinerziehene Mutter, die nach Jahren in der Sozialhilfe Arbeit gefunden hat. Zuerst kümmerte sie sich um ihr Kind. Dann schaffte sie es, wirtschaftlich wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Und wie dankt ihr Münchenstein? Die Baselbieter Gemeinde präsentierte der Mutter eine Rechnung über 225'000 Franken. Die Frau soll 20 Jahre lang monatlich 980 Franken Sozialhilfe zurückzahlen.

Münchenstein ist ein besonders krasses Beispiel. Der «Kassensturz» hat es dankenswerterweise publik gemacht. Tatsächlich aber bestehen fast alle Kantone – sobald jemand wieder einen Lohn hat – zumindest auf Teil-Rückerstattung von Sozialhilfe.

In fast allen Kantonen geht es also darum, Not zu bestrafen. Und sei es erst im Nachhinein.

Einen anderen Umgang mit Menschen in misslicher Lage pflegt Finnland. Hier gibt es neben der klassischen Sozialhilfe für Bedürftige auch einen «Sozialkredit». Finnland gewährt Bürgern mit Geldproblemen ein Darlehen von bis zu 10'000 Euro. Damit können sie Schulden tilgen, aber ebenso Anschaffungen tätigen.

Das Sozialministerium in Helsinki macht auf seiner Website gleich ein paar Vorschläge, wofür sich das Geld einsetzen lässt: «Hauskauf, Freizeitausrüstung für Kinder, Arbeitsgeräte oder Fahrzeuge».

Ei paha! Das ist Finnisch für: Nicht schlecht!

Ein Kommentar von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty

Schulden: Kein anderes Wort ist moralisch derart aufgeladen. Als ob «Schuld» allein nicht genug wäre, kommt sie in «Schulden» sozusagen gleich in der Mehrzahl daher.

Generell schwingt ein Vorwurf der Verschwendung mit, wenn von Schulden die Rede ist.

«Schulden lassen die Lügen hinter sich aufsitzen», lautet ein Sprichwort. Oder, ganz schlicht: «Schuldner sind Lügner.»

Das ist natürlich alles Quatsch. Und zwar in zweifacher Hinsicht.

Erstens: Schulden sind grundsätzlich eine gute Sache. Unsere Wirtschaft wäre ohne sie undenkbar. «Kredit» ist nicht bloss der positive Begriff für Schulden. Er ist die Basis des modernen Kapitalismus.

Dabei geht es nicht nur um teure Infrastrukturprojekte, die sich ohne Vorschuss kaum finanzieren lassen. Der Historiker Frank Trentmann erzählt in seinem wunderbaren Buch «Herrschaft der Dinge» die Kulturgeschichte des Konsums. Darin berichtet er, wie ein New Yorker Möbelhaus vor 200 Jahren den Ratenkauf erfand. «Der Ratenkredit verwandelte die Massenproduktion in Massenkonsum», schreibt Trentmann.

Der zweite Irrtum, wenn über Schulden gesprochen wird, betrifft die Person des Schuldners.

Zunächst ist es ja so, dass die Mehrheit keine Mühe bekundet, ihre Schulden zu begleichen. Die Ausfallrate bei Krediten ist minim. Daran hat weder der Kreditkarten-Boom noch der Onlinehandel etwas geändert.

Und doch ist Überschuldung ein Problem. Für jeden Betroffenen bedeutet sie eine Katastrophe. Unserer Gesellschaft wiederum stellt sie oft ein Armutszeugnis aus. Denn meist sind eben nicht Verschwendung und blinde Konsumwut die Ursache von Überschuldung. Schuld sind in aller Regel prekäre Arbeitsverhältnisse und miese Löhne, Krankheit und Scheidung.

Am häufigsten geraten alleinerziehende Mütter in die Schuldenspirale.

Es ist darum falsch, die Verschuldung als moralisches Problem abzutun. Es ist für gewöhnlich falsch, Menschen mit Schulden für ihre Not verantwortlich zu machen.

Genau dies passiert jedoch.

In Münchenstein lebt eine alleinerziehene Mutter, die nach Jahren in der Sozialhilfe Arbeit gefunden hat. Zuerst kümmerte sie sich um ihr Kind. Dann schaffte sie es, wirtschaftlich wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Und wie dankt ihr Münchenstein? Die Baselbieter Gemeinde präsentierte der Mutter eine Rechnung über 225'000 Franken. Die Frau soll 20 Jahre lang monatlich 980 Franken Sozialhilfe zurückzahlen.

Münchenstein ist ein besonders krasses Beispiel. Der «Kassensturz» hat es dankenswerterweise publik gemacht. Tatsächlich aber bestehen fast alle Kantone – sobald jemand wieder einen Lohn hat – zumindest auf Teil-Rückerstattung von Sozialhilfe.

In fast allen Kantonen geht es also darum, Not zu bestrafen. Und sei es erst im Nachhinein.

Einen anderen Umgang mit Menschen in misslicher Lage pflegt Finnland. Hier gibt es neben der klassischen Sozialhilfe für Bedürftige auch einen «Sozialkredit». Finnland gewährt Bürgern mit Geldproblemen ein Darlehen von bis zu 10'000 Euro. Damit können sie Schulden tilgen, aber ebenso Anschaffungen tätigen.

Das Sozialministerium in Helsinki macht auf seiner Website gleich ein paar Vorschläge, wofür sich das Geld einsetzen lässt: «Hauskauf, Freizeitausrüstung für Kinder, Arbeitsgeräte oder Fahrzeuge».

Ei paha! Das ist Finnisch für: Nicht schlecht!

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