Frau Bütler, wie viele Stunden Schlaf pro Nacht bekommen Sie aktuell?
Monika Bütler: Ich liege wie ganz normal so sieben Stunden im Bett. Aber schlafen tue ich schlecht.
Was raubt Ihnen in Bezug auf Covid-19 im Moment den Schlaf?
Ach, vieles. Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist eben viel komplizierter als oft gedacht. Es gibt keine Wahl zwischen Wirtschaft schützen und das Virus einfach laufen lassen oder das Virus eliminieren und dafür die Wirtschaft zerstören. Alles hängt miteinander zusammen. Wenn die Leute Angst haben, arbeiten sie weniger, sie investieren weniger, das hat direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft.
So wie im Sondermodell Schweden?
Auch dort wurden Massnahmen getroffen, aber viel weniger strenge. Nun sind die Wirtschaftszahlen in Schweden genauso schlecht wie bei uns, bei viel höheren Fallzahlen und Todesfällen. Und das hat Folgen: Wenn ich weiss, dass ich mich anstecken kann, geh ich weniger ins Restaurant. Diese Verhaltensanpassungen der Menschen haben viele unterschätzt. Sorgen bereitet mir allerdings auch die geopolitische Lage.
Können Sie das konkretisieren?
Der Fokus der Weltöffentlichkeit liegt auf der Eindämmung des Virus. Sämtliche sonstigen internationalen Probleme laufen aber weiter, und niemand schaut genau hin. Man kann von der amerikanischen Politik halten, was man will, das Gegengewicht Amerikas zu den autoritären Staaten wie China und Russland ist immens wichtig. Je tiefer die Amerikaner in die Krise geraten, desto labiler wird das weltweite Gleichgewicht. Und die Fallzahlen in den USA steigen wieder. Bei uns leider auch.
Sie steigen sogar schon fast wieder exponentiell. Waren die Lockerungen zu früh?
Das kann man generell so nicht sagen. Es waren teilweise die falschen Lockerungen in zu schneller zeitlicher Abfolge, vor allem im Juni. So konnten die Auswirkungen der verschiedenen Schritte gar nicht richtig evaluiert werden. Ich habe nicht verstanden, warum man die Öffnung von Innenräumen, in welchen Abstände schlecht zu kontrollieren sind, für so viele Menschen gleichzeitig zulässt.
Sie reden von den Clubs?
Ja, dabei ist klar, dass das eine Hochrisiko-Umgebung ist. In Japan läuft die Kommunikation zur Virusvermeidung über die drei C: «closed spaces, crowded spaces, close contact settings» («Innenräume, überfüllte Orte, Situationen mit engen Kontakten», Anm. d. Red.). Ich hätte auch die Sitzpflicht in den Restaurants nicht aufgelöst.
Sitzpflicht?
Dass man nicht an der Bar oder am Tresen stehen darf. Mit der Sitzpflicht waren die Abstände besser gewährleistet. Auch dass man die Empfehlung für Homeoffice aufgehoben hat, finde ich nicht ideal. Damit ist die Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel wieder so stark angestiegen, dass es schwierig ist, Distanz zu halten.
Machen Sie die Leute in den Clubs oder die, welche wie Sardinen in der Badi liegen, hässig?
Die Kommunikation der Behörden hat einen grossen Einfluss auf unser Risikoverhalten. In den Lockerungen von Ende Juni war die Botschaft enthalten, wir hätten wieder weitgehend Normalität. Dann sagen sich die meisten: Ist ja erlaubt, ist in dem Fall okay. Ich sehe eine Mitverantwortung der Behörden. Aber ja, ich rege mich natürlich schon manchmal auf. Zum Beispiel wenn ich die ausgeklügelten strengen Schutzkonzepte der Schule unserer Söhne anschaue – und 200 Meter weiter öffnet ein Nachtclub.
Ab Montag herrscht deshalb nun Maskenpflicht im ÖV. Haben Sie persönlich schon vorher eine getragen?
Ja, natürlich! Ich habe eine Maskenpflicht im ÖV schon lange befürwortet. Aus zwei Gründen: Erstens dienen Masken nachweislich als Schutz vor dem Virus, zweitens geht von ihnen auch ein Signal aus – eine Maske macht uns bewusst, dass wir eben noch nicht ganz in der Normalität zurück sind. Das macht uns allgemein vorsichtiger.
Sie sind in der Covid-19-Taskforce des Bundes. Wie sieht die Zusammenarbeit aus?
Wir haben uns im April und Mai bis zu fünf Mal pro Woche via Zoom getroffen. Daneben läuft die Arbeit in den verschiedenen Expertengruppen. Zeitweise ist es dann etwas ruhiger geworden, wir haben aber weiter an den wichtigen Themen gearbeitet.
Epidemiologen, Virologen und Wirtschaftsvertreter hatten oft unterschiedliche Ansichten zu Massnahmen. War und ist das in der Taskforce auch so?
In der Öffentlichkeit existiert manchmal ein falsches Bild, zum Beispiel dass Virologen und Epidemiologen nur das Virus und nicht die Wirtschaft im Blick hätten. Den Gegensatz Wirtschaft–Gesundheit gibt es so aber nicht. Allen ist klar: Die Wirtschaft läuft nur dann einigermassen rund, wenn das Virus unter Kontrolle ist. Das Ziel der Wirtschaftswissenschaftler, Epidemiologen und Virologen in der Taskforce ist dasselbe. Wir bündeln die Erkenntnisse aus der internationalen und der eigenen Forschung und stellen diese Grundlagen in geeigneter Form den Behörden und der Öffentlichkeit zur Verfügung, manchmal auch als Empfehlung. Es ist an der Politik, daraus Massnahmen abzuleiten.
Welche konkreten Empfehlungen stammen denn von der Taskforce?
Schon früh wurde in einem sogenannten Policy-Brief der Nutzen der Masken beschrieben. Dass die Lockerungen gestaffelt vor sich gehen sollten oder dass die Tests durch den Bund finanziert werden sollten, waren weitere Empfehlungen. Ansonsten waren Mitglieder der Taskforce federführend bei der Entwicklung der Proximity-Tracing-App.
In der Taskforce kommen drei Frauen auf sieben Männer – nervt Sie das?
Auch in den Expertengruppen sind rund 30 Prozent Wissenschaftlerinnen. Das scheint auf den ersten Blick wenig. Gemessen am Anteil der Frauen an den Professuren in den vertretenen Bereichen ist das deutlich über dem Durchschnitt. Die Vertretung der Frauen in solchen Gremien ist wichtig, da die Frauen von der Krise auch unterschiedlich betroffen sind. Hierzu gibt es einige Studien.
Während des Lockdowns wurde in diversen Gebieten die Luft sauberer. In einigen Zeitungsartikeln wurde gefordert, diese Zeit als ökologische Chance wahrzunehmen. Ist davon konkret etwas geblieben?
Das bezweifle ich. Wir haben momentan aufgrund der Hygienemassnahmen und der Einweg-Schutzprodukte wie Masken wieder ein stärkeres Abfallproblem, und der Individualverkehr mit dem Auto nimmt zu, weil die Menschen den ÖV nicht benutzen wollen.
Monika Bütler (59) ist Mitglied der Covid-19-Taskforce des Bundesrats. Die Professorin für Volkswirtschaft an der Hochschule St. Gallen und Ehrendoktorin der Universität Luzern gilt als eine der wichtigsten Ökonominnen des Landes. Bütler beschäftigt sich insbesondere mit den Themen Alterung der Gesellschaft, Sozialversicherungen und Arbeitsmarkt. Sie ist Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und hält einige Verwaltungsratsmandate. Vor allem aber ist sie eine unkomplizierte und humorvolle Gesprächspartnerin, mit der man endlos über Gott und die Welt diskutieren möchte. Bütler lebt mit ihrem Mann und zwei Teenager-Söhnen in Zürich.
Monika Bütler (59) ist Mitglied der Covid-19-Taskforce des Bundesrats. Die Professorin für Volkswirtschaft an der Hochschule St. Gallen und Ehrendoktorin der Universität Luzern gilt als eine der wichtigsten Ökonominnen des Landes. Bütler beschäftigt sich insbesondere mit den Themen Alterung der Gesellschaft, Sozialversicherungen und Arbeitsmarkt. Sie ist Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und hält einige Verwaltungsratsmandate. Vor allem aber ist sie eine unkomplizierte und humorvolle Gesprächspartnerin, mit der man endlos über Gott und die Welt diskutieren möchte. Bütler lebt mit ihrem Mann und zwei Teenager-Söhnen in Zürich.
Sie auch?
Nein, ich besitze kein Auto. Ich fahre Zug und Tram.
Die klassische Ökonomie geht davon aus, dass der Markt schliesslich alles in Ordnung bringt und als geschlossenes System Missstände sozusagen von sich aus korrigiert. Glauben Sie in Bezug auf ökologische Krisen auch daran?
Da wird die klassische Ökonomik ganz schön falsch verstanden. Nein, Bei sogenannten Externalitäten, der Umweltverschmutzung oder den Auswirkungen unserer Aktivitäten auf das Klima, richtet es der Markt alleine eben nicht, weil die Kosten der Verschmutzung nicht berücksichtigt werden. Es braucht hier Gegenmassnahmen, die das korrigieren. Eine griffige CO2-Steuer zum Beispiel reduziert nicht nur den Ausstoss von CO2, sondern macht auch die Entwicklung alternativer Energien wie Wasserstoff für Investoren interessanter. Für andere Umweltprobleme bräuchte es einen internationalen politischen Konsens und kreative Lösungen, die leider noch fehlen. Man könnte Länder, die ihre Wälder schützen, dafür entschädigen, dass der Regenwald nicht abgeholzt wird. Wir machen Ähnliches in der Schweiz mit Erfolg.
Inwiefern?
Der Bund zahlt unsere Bauern dafür, etwa Alpweiden in Schuss zu halten und so dortige Ökosysteme und Biodiversität zu erhalten. Interessanterweise hilft oft auch das viel gescholtene Wirtschaftswachstum. So haben wir in Europa saubereres Wasser und mehr Wald als noch in den 80er-Jahren.
Es gibt bereits 8000 neue Arbeitslose. Ist es nach Covid-19 vorbei mit der Wohlstandsinsel Schweiz?
Das glaube ich nicht. Die Bewältigung der Krise wird sehr teuer sein, aber wir sind sehr gut aufgestellt. Die Staatsverschuldung ist tief, und die Sozialversicherungen sind im internationalen Vergleich gut ausgebaut. Die vergangenen Krisen haben gezeigt, dass eine gute Bildung der breiten Bevölkerung und ein liberaler Arbeitsmarkt mit einer guten Absicherung nicht nur den Aufschwung unterstützen, sondern auch das Öffnen der Lohnschere verhindern können.
Warum erhalten grosse Firmen Notkredite, während Künstler und Selbständige ihre Hosentaschen umdrehen?
Die Notkredite sichern Arbeitsstellen und Infrastrukturen, die es bis zu einem gewissen Grad zu erhalten gilt. Die wichtigste Massnahme ist allerdings die Kurzarbeit. Tatsächlich gibt es bei der Entschädigung von Künstlern und Selbständigen ein strukturelles Problem – der Bund und die Kantone haben kein einfaches System zur Hand, welches den Verdienstausfall beziffern kann. Ich bin sicher, dass eine Lösung gefunden wird.
Ist Covid-19 der Anfang vom Ende der Globalisierung?
Wir befinden uns in einem beschleunigten Strukturwandel. Der Onlinehandel boomt, die Menschen reisen weniger, sie wollen weniger ins Büro oder an Konferenzen, Unternehmen diversifizieren ihre Produktions- und Logistikabläufe. Das Ende der Globalisierung ist es aber nicht. Die Krise hat gerade gezeigt, dass die internationale Produktion und Diversifikation ihren Nutzen bringt.
Können Sie uns angesichts Covid-19, Klimawandel, Umweltzerstörung und zunehmender Jobunsicherheit zum Schluss noch etwas Mut machen?
Absolut. In den letzten Jahrzehnten ist die Welt trotz aller Unkenrufe besser geworden.
Die Stellung der Frauen hat sich verbessert, die Lebenserwartung ist gestiegen, die Kindersterblichkeit massiv gesunken, die globale Armut ist stark zurückgegangen.
Wir erleben nun einen herben Rückschlag, aber längerfristig werden die positiven Entwicklungen weitergehen.