Schon fast zwei Wochen lang sitzt Pierin Vincenz (61) in Untersuchungshaft. Dass es so weit gekommen ist, hängt mit einem SMS zusammen, das der frühere Raiffeisen-Chef vor mehr als 700 Tagen erhalten hat, genauer: am 6. April 2016.
Da bekam Vincenz eine Nachricht von Lukas Hässig, Inhaber und Autor des Ein-Mann-Finanzportals «Inside Paradeplatz».
Hässig hatte erfahren, dass Vincenz am 3. Juli 2015 auf seinem Konto bei der Raiffeisenbank Lugano eine Überweisung von 2,9 Millionen Franken empfangen hatte. Das Geld kam von Beat Stocker, dem ehemaligen CEO der Kreditkartenfirma Aduno, einer 25-Prozent-Tochter von Raiffeisen. Stocker ist ein langjähriger Geschäftspartner und Intimus von Vincenz – und sitzt nun wie er in Untersuchungshaft.
Hässig kam diese Transaktion sofort verdächtig vor. Denn er wusste, dass sich Raiffeisen mit Vincenz an der Spitze nur wenige Wochen vor der Überweisung für viel Geld bei der KMU-Beteiligungsgesellschaft Investnet eingekauft und dass Stocker diesen Deal eingefädelt hatte.
Hässig liess sich nicht einschüchtern
Gehörten die 2,9 Millionen aus der Überweisung von Stocker an Vincenz irgendwie zu diesem Deal? War der Raiffeisen-Chef etwa heimlich an Investnet beteiligt gewesen? Hässig fragte deshalb in seinem SMS an Vincenz: «Gibt es einen Zusammenhang?»
Der verneinte vehement: «Da gibt es null Zusammenhang. Diese Frage alleine ist ein Skandal. Herr Stocker hat mir ein privates Darlehen für einen Hauskauf gewährt. Das geht niemanden etwas an und ich werde alle juristischen Mittel einsetzen, um herauszufinden, wer das Bankgeheimnis in derart grober Weise verletzt.»Dann folgt die Drohung an den Onlinejournalisten: «Jegliche Publikation wird auch juristische Konsequenzen haben. Lieber Gruss, Pierin Vincenz».
Hässig liess sich von dieser Drohung nicht einschüchtern. Einen Tag später machte er die brisante Zahlung von Stocker an Vincenz auf seinem Blog «Inside Paradeplatz» publik. Ein Entschluss von gewaltiger Tragweite. Ohne diese Publikation – und die darauf folgenden Recherchen – würden Vincenz und Stocker wohl heute nicht in Untersuchungshaft sitzen.
Das bestätigte am Freitag auch Pascal Gantenbein, seit dieser Woche bei Raiffeisen Verwaltungsratspräsident ad interim. An einer Medienkonferenz auf Berichte von «Inside Paradeplatz» im Jahr 2016 angesprochen, räumte er ein: «Es ist richtig, dass dies zentrale Artikel gewesen sind in dieser ganzen Geschichte. Sie passten in einer gewissen Weise sicherlich in die Tatverdachtsmomente, die momentan von der Staatsanwaltschaft untersucht werden.»
Gantenbein nimmt die Verantwortlichen in Schutz
Es war das erste Mal, dass ein hochrangiger Raiffeisen-Vertreter öffentlich zugab, dass Hässigs Enthüllungen der Auslöser für die gegenwärtige Affäre um Vincenz, Stocker und Raiffeisen waren.
Doch wieso hat Raiffeisen, wo Patrik Gisel im Oktober 2015 als CEO auf Vincenz folgte, nach dem Erscheinen der Veröffentlichungen vor bald zwei Jahren nicht sofort Licht ins Dunkel gebracht?
Gantenbein, zu diesem Zeitpunkt noch nicht bei Raiffeisen, nimmt die Verantwortlichen in Schutz: «Die Artikel haben sehr wohl etwas ausgelöst. Raiffeisen Schweiz hat im Herbst 2016 bei der Anwaltskanzlei Prager Dreifuss einen Bericht in Auftrag gegeben.» Die Kanzlei habe daraufhin Raiffeisen-intern eine Untersuchung durchgeführt. Was auch der Auslöser dafür gewesen sei, dass die Finanzmarktaufsicht (Finma) anschliessend eine eigene Untersuchung anstellte. Gantenbein: «Man hat also relativ zügig begonnen, das Ganze intern zu untersuchen.»
Dass bei den internen Nachforschungen nichts Handfestes zum Vorschein kam, erklärt Gantenbein so: «Es gab Kontoverbindungen und Transaktionen, die wir intern nicht überprüfen konnten. Das ist der Vorteil, den die Staatsanwaltschaft hat.» Er meint damit, dass die Staatsanwaltschaft auch bei anderen Banken Konten einsehen kann.
In der Zwischenzeit hatte Finanzjournalist Hässig bereits neue fragwürdige Zahlungen publik gemacht. Wichtig war vor allem ein Beitrag von Ende Juli 2016. Darin rückte Hässig Commtrain Card Solutions in den Fokus, eine kleine Software-Entwicklungsfirma für die kontaktlose Zahlung mit Kreditkarten. Commtrain wurde 2007 von der Raiffeisen-Tochter Aduno übernommen. Auch an dieser Firma sollen sich Vincenz und Stocker vorab beteiligt haben – über ein geheimes Anlagevehikel. Brisant daran: Vincenz war zu diesem Zeitpunkt ebenso Raiffeisen-CEO wie Aduno-Verwaltungsratspräsident, Stocker amtete als Aduno-CEO.
Turbulente Monate für Hässig
Es sind Transaktionen rund um diese Übernahme, die dazu führten, dass Aduno im Dezember 2017 gegen den früheren Verwaltungsratspräsidenten Vincenz Anzeige erstattete, worauf sich die Staatsanwaltschaft einschaltete ... Der Rest ist Geschichte.
Bis es so weit war, musste der Ein-Mann-Unternehmer Hässig turbulente Monate überstehen: «Seit dem Sommer 2016 erhielt ich vom Berater von Vincenz und Stocker stets dieselbe Drohung: Bei der nächsten Story gibt es eine Klage wegen Bankgeheimnisverletzung und Schadenersatzforderungen.»
Lange passierte daraufhin nichts. Bis Hässig im Spätsommer 2017 in einem Beitrag ein kleiner inhaltlicher Fehler unterläuft. Vincenz und Stocker erwirken sofort eine superprovisorische Verfügung beim Handelsgericht Zürich. Hässig muss den Artikel löschen – und ihm droht eine Schadenersatzforderung von 100'000 Franken.
Es folgen Verhandlungen über einen aussergerichtlichen Vergleich. «In diesen Gesprächen pochten Vincenz und Stocker darauf, dass sämtliche wichtigen Artikel für immer gelöscht werden», sagt Hässig.
Am 7. Oktober 2017 schreibt ihm Stocker sogar in einem SMS: «Ich möchte, dass wir den Vergleich auf alle mit mir im Zusam-menhang stehenden ‹Inside-Paradeplatz›-Publikationen finden.»
Für den Journalisten und seinen Blog wäre dies das Ende. Er wehrt sich und droht seinerseits mit Strafanzeige gegen Vincenz und Stocker. Die beiden krebsen daraufhin zurück.
Der Vergleich hat es dennoch in sich: Hässig verpflichtet sich unteranderem, künftig keine weiteren Publikationen über die Themenkreise Commtrain und Investnet zu publizieren, die «in der Vergangenheit liegen oder thematisch die Vergangenheit betreffen». Hält er sich nicht daran, droht ihm eine Konventionalstrafe von 50'000 Franken.
Zu einer Klage kommt es dennoch nicht
Als die Finma im November 2017 zu ermitteln beginnt, haut Hässig ungeachtet dessen wieder in die Tasten. Seine Begründung: «Ab dann bezog sich die Berichterstattung ja auf eine neue Situation, die in der Gegenwart liegt.» Vincenz und Stocker sahen das offenbar anders. Ihre Anwälte mahnten Hässig mehrmals ab. Zu einer Klage kommt es dennoch nicht. Inzwischen scheint diese Gefahr erstmals gebannt. Seit seine beiden Widersacher in Untersuchungshaft sitzen, dürften sie andere Probleme haben als Lukas Hässig und seinen Onlinedienst «Inside Paradeplatz».