Meyer sagt Tschüss!
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Interview mit SBB-Chef:Meyer sagt Tschüss!

SBB-Chef im Interview zu seinem letzten Arbeitstag
Meyer sagt Tschüss!

Heute ist Schluss: Andreas Meyer (58) hat seinen letzten Arbeitstag als SBB-Chef. Das Abschiedsinterview zu Pünktlichkeit, Coronavirus und der Zukunft der Bahn.
Publiziert: 30.03.2020 um 23:55 Uhr
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Aktualisiert: 02.09.2020 um 16:18 Uhr
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Andreas Meyer übernahm am 28. Dezember 2006 die Geschäftsführung der SBB. Heute ist sein letzter Arbeitstag als CEO.
Foto: Keystone
Interview: Christian Dorer

BLICK: Herr Meyer, was für ein Abschied nach 13 Jahren! «Ich hätte nie geglaubt, dass ich Kunden auffordern müsste, den öffentlichen Verkehr zu meiden», schrieben Sie auf Twitter. Ein Albtraum?
Andreas Meyer: Es ist wirklich ein Albtraum: die gesundheitlichen Bedrohungen, die Unsicherheit und der weitgehende Lockdown auch im öffentlichen Verkehr.

Wie viele nutzen den ÖV noch?
Wir haben Nachfragerückgänge von 80 bis 90 Prozent. Selbst in Hauptverkehrszeiten trifft man in manchen Wagen nur eine oder zwei Personen an.

Sie mussten innert weniger Tage einen riesigen Fahrplanwechsel aus dem Boden stampfen. Wie macht man das?
Wir sahen, dass es wohl zu Personalengpässen kommt. Deshalb haben wir Mitte März beschlossen, das Angebot vorausschauend und geordnet herunterzufahren. Die SBB haben vom Bund den Auftrag, in einer Krise den gesamten Schienenverkehr als Systemführerin zu organisieren. In einer Krise kann man nicht lange diskutieren. Das ist die grösste Fahrplanänderung, die der öffentliche Verkehr je gemacht hat! Eine unglaubliche Leistung von allen Beteiligten.

Wie weit wird das Angebot noch reduziert?
Wir werden die Situation genau beobachten und haben vorbehaltene Entscheide getroffen. Sollte ein weiterer Schritt nötig sein, so müssten wir die Fernverkehrslinien weiter ausdünnen. Das Angebot ist jetzt um rund 25 Prozent reduziert. Unter eine Schwelle von rund 50 Prozent können wir im Personen- und Güterverkehr nicht gehen. Weil viele Verbindungen nicht mehr funktionieren würden und die Landesversorgung damit nicht mehr sichergestellt werden könnte.

Man käme also bei komplizierten Verbindungen nicht mehr von A nach B?
Richtig. Die Angestellten in Gesundheitsbereich, Lebensmittelversorgung, Sicherheitsbereich und die lebensnotwendigen Güter könnten nicht mehr zuverlässig transportiert werden. Das geht nicht.

Können die SBB später per Knopfdruck wieder zum alten Angebot übergehen?
Ganz sicher nicht per Knopfdruck. Runtergefahren ist deutlich schneller als hochgefahren. Man wird es stufenweise machen müssen. Wir gehen aber davon aus, dass auch die Nachfrage nicht sofort wieder auf 100 Prozent schnellt.

Können Ihre Mitarbeiter jetzt wenigstens Unterhalt machen und Überstunden abbauen?
Leider nur teilweise. Wir mussten einzelne Baustellen geordnet herunterfahren, weil auch da die Ressourcen fehlen, und konzentrieren uns auf den betriebsnotwendigen Unterhalt. Auch die Baustelle Ceneri und die Metrò Ticino werden wohl verzögert. Auch in den Werkstätten fehlen Leute.

Der Ceneri-Basistunnel von Bellinzona nach Lugano hätte im Dezember eröffnet werden sollen. Wie gross wird die Verspätung sein?
Wenn Sie mir sagen können, wie lange der Lockdown andauern wird, dann kann ich eine Aussage dazu machen. Sicher ist im Moment nur: Es wird eine Verzögerung geben. Der öffentliche Verkehr muss klären, ob es überhaupt möglich sein wird, Ende Jahr einen Fahrplanwechsel zu vollziehen. Oder ob man sich auf das Hochfahren des ordentlichen Angebots konzentriert.

Viele Abos liegen derzeit ungenützt herum: Wieso zahlen Sie den Leuten nicht ihr Geld zurück beziehungsweise beim GA nur für 30 Tage?
Der ÖV ist bereits heute sehr kulant bei Einzelbilletts und Gruppenreisen. Bei den Abonnementen ist die gesamte Branche intensiv daran, miteinander zu verhandeln, um für alle Kunden eine gute und einfache Lösung zu finden. Sie wird auch rückwirkend gültig sein. Es ist also nicht nötig, jetzt die Abos zu künden. Es geht um mehrere 100 Millionen Franken pro Monat. Das hat riesige Auswirkungen auf alle Transportunternehmen, aber auch auf die Besteller Bund und Kantone. Das braucht ein paar Tage, bis man Aussagen dazu machen kann.

Werden sich die Menschen nach der Corona-Krise anders fortbewegen?
Diese Zeit wird Auswirkungen haben auf das Arbeits-, Lern- und Mobilitätsverhalten. Sobald wir uns wieder frei bewegen können, wird es insbesondere im Freizeitbereich einen Nachholbedarf geben. Ein grosses Fragezeichen ist die wirtschaftliche Entwicklung. Es wird nach der Solidarität für das Überleben auch noch einen Pakt zwischen Unternehmen, Mitarbeitenden und dem Staat brauchen, um Arbeitsplätze zu retten und Lieferketten sicherzustellen. Eine Herkulesaufgabe.

Was, wenn die Leute finden, dass Homeoffice praktisch, das Auto bequemer, das Velo gesünder ist?
Ich hoffe, dass viele jetzt merken, wie viele gute Möglichkeiten es gibt, die stark belasteten Züge zu Stosszeiten zu meiden. Man kann eine, zwei Stunden später zur Arbeit fahren. Oder eine Hochschule sagt, dass sie gewisse Angebote von nun an digital anbiete.

Unabhängig von der Krise: Wie reisen wir in zehn, zwanzig Jahren?
Das Prinzip «eine Reise, ein Ticket» wird ausgedehnt, weitere Partner werden dazugehören, etwa Mobility, Taxis oder Park and Ride. Eines Tages werden autonome Fahrzeuge dazukommen. Mit diesen kann man sich individuell bewegen. Die grossen Transportgefässe des öffentlichen Verkehrs wie Bahnen und Busse werden nach wie vor eine wichtige Rolle spielen.

Was macht Sie da so sicher? Im autonomen Auto kann man arbeiten, schlafen, essen wie im Zug, es fährt einen aber direkt von der Haus- zur Bürotür.
Der springende Punkt ist die Kapazität der Verkehrswege: Ein Zug mit 1400 Personen ist 400 Meter lang. Wenn 1400 Personen in einzelnen Kapseln reisen, dann bräuchten diese drei Spuren auf drei Kilometern! Es scheitert schon alleine an der Kapazität der Strassen. Darum braucht es eine intelligente Kombination der Verkehrsträger.

Wann wird der erste SBB-Zug autonom fahren und das Lokführerproblem lösen?
Es ist mir während meiner Amtszeit nicht gelungen, dieses Gespenst zu verscheuchen. Ich sagte immer klipp und klar: Es wird immer Lokführer brauchen! Stellen Sie sich vor, man hätte eine technische Panne und kein Lokführer wäre vor Ort. Wir bräuchten Einsatztrupps an jedem Bahnhof, das wäre nicht effizient. Dann die Psychologie: Wenn man durch den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel fährt, fühlten sich viele Kunden ohne Lokführer nicht wohl.

Ein Aufruf an alle Jungen, die Lokführer werden wollen!
Absolut. Die neuen Züge, die wir derzeit in Betrieb nehmen, fahren nicht ohne Lokführer. Sie stehen mindestens 25 Jahre lang im Einsatz. Welcher andere Beruf bietet so langfristige Perspektiven?

Was wird sich für die Passagiere in Zukunft ändern?
Die Branche arbeitet daran, den GA-Komfort für alle zu ermöglichen. Bessere Angebote werden möglich, wenn man sich tracken lässt und für die Reise registriert. Ein Vorteil sind dann persönliche Push-Nachrichten, die auf Verspätungen hinweisen. Bei gravierenden Verspätungen wird es möglich sein, den Passagieren eine Entschädigung zu zahlen. Dabei werden sich die SBB stets strengstens an die Datenschutzbestimmungen halten.

Herr Meyer, heute ist Ihr letzter Arbeitstag – und das zum dümmstmöglichen Zeitpunkt: mitten in der Krise und nach dem schwierigen Jahr 2019.
Ich machte diese Arbeit 13 Jahre und 3 Monate lang. Ich bin derjenige Bahnchef in Europa, der am längsten im Amt ist, gehe aus freien Stücken und kündigte meinen Rücktritt früh an. Es stimmt so. Aber der Zeitpunkt ist natürlich nicht gut, denn wir fahren ja gerade mitten in die Krise rein.

Wie ist Ihre Gefühlslage?
Gemischt. Bis vor Corona freute ich mich sehr aufs Reisen und darauf, mich das ganze restliche Jahr beruflich nicht gross zu engagieren. Jetzt ist Reisen nicht möglich, und es gibt viele Unternehmen, die die Beratung von Krisenmanagern brauchen. Da bin ich bereits mit einigen in Kontakt. Mir wird nicht langweilig.

Was bleibt von der Ära Meyer?
Vor 13 Jahren gab es noch das Kartonbillett und gedruckte Kursbücher. Jetzt haben wir alles in einer App, der meistgenutzten App der Schweiz. Das Rollmaterial ist erneuert. Man kann im Zug telefonieren. Das Bahnhof- und Arealgeschäft trägt viel zur finanziellen Stabilität des Unternehmens bei und hat die Sanierung der Pensionskasse ermöglicht. SBB Cargo ist in den schwarzen Zahlen und hat Partner gefunden. Und der ÖV hat 50 Prozent mehr Passagiere als bei meinem Amtsantritt. Wichtig scheint mir auch der Paradigmenwechsel vom Kampf Strasse gegen Schiene zum selbstverständlichen Miteinander, und dass es in den letzten Jahren keine Preiserhöhung gegeben hat.

Viele Passagiere sehen vor allem Störungen, Verspätungen und Lokführermangel. Man hat das Gefühl, der Betrieb pfeife aus dem letzten Loch.
Bei der Lokführerplanung gab es schwerwiegende Fehler. Man hat eine Lektion gelernt. Die Lokführerklassen sind jetzt wieder voll, bis 2021 wird sich die Situation beruhigen. Es gab vor allem letzten Herbst viele Baustellen auf dem Schienennetz. Da haben wir uns übernommen. Meine Devise war immer Transparenz, dann kann man die Probleme beheben.

Als CEO tragen Sie letztlich die Verantwortung für alles. Wo sagen Sie selbstkritisch: Das hätte ich anders machen sollen!
Das ist eine schwierige Frage. Ich versuchte in den vergangenen Jahren, mehr und mehr zu delegieren. Ich muss mich darauf verlassen können, dass Verantwortung wahrgenommen und Negatives sichtbar gemacht wird. Jetzt machen wir beim Personal einen integrierten Ressourcencheck, ob die Entwicklungen tatsächlich aufeinanderpassen. Da hätte ich mich intensiver damit auseinandersetzen müssen.

Und bei den Pannenzügen von Bombardier: Hätten Sie da nicht resoluter handeln müssen? Die Deutsche Bahn hat sich einfach geweigert, weitere Züge abzunehmen.
In Deutschland hat man einen anderen Stil. Da wird einfach gepoltert. Wir polterten auch mit Bombardier, aber hängen das nicht an die grosse Glocke. Dieses Dossier habe ich persönlich sehr eng begleitet. Wir waren anspruchsvolle Kunden. Bombardier hat viel darangesetzt, dass die Züge geliefert und zuverlässiger werden. Wenn Corona nicht gewesen wäre, hätte man diese Züge im zweiten Quartal auf der Ost-West-Achse einsetzen können.

Beim SBB-Chef ist es wie beim Nati-Trainer: Alle reden mit. Ist das schön oder lästig?
Während meiner Amtszeit haben wir rund 50 Milliarden Franken an öffentlichen Mitteln erhalten. Da ist es selbstverständlich, dass alle mitreden wollen. An 360 Tagen hatte ich Verständnis dafür und Freude an der Arbeit, an fünf Tagen war es anstrengend. Persönlich freue ich mich auf die Zeit, wenn ich beim Besuch meiner Eltern oder Freunde nicht immer zuerst eine halbe Stunde über den ÖV reden muss.

Haben Sie keine Angst, in ein Loch zu fallen?
Nein, ich bin vielfältig interessiert. Auch die mediale Präsenz werde ich nicht vermissen.

Wie hat sich das in Ihrer Amtszeit verändert?
Die digitale Technik förderte die Transparenz. Vor 13 Jahren erhielt ich eine Betriebsmeldung, bevor ich irgendwo eine Schlagzeile las. Beim Unfall von Granges-près-Marnand 2013 sah ich Bilder von Leserreportern auf einer Onlineseite, bevor ich es intern erfahren hatte. Die Medien sind viel mehr unter Druck und haben weniger Zeit, es gibt eine Tendenz zu Skandalisierung und Personalisierung. Das Gleiche gilt auch für die Sozialpartner.

Wie sind Sie damit umgegangen?
Es braucht ein gewisses Verständnis und Gelassenheit, auch auf Stufe unseres Verwaltungsrats, damit man sich nicht von Tagesschlagzeilen zum Handeln verleiten lässt und Anliegen trotzdem ernst nimmt. Für mich selber war auch der innere Kompass wichtig. Obwohl es nicht so scheint, bin ich stark selbstreflexiv.

Wie funktioniert Ihre Selbstreflexion?
Sie funktioniert im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch im privaten Umfeld. Ab und an ruft mein Vater an und fragt: «Was hast du da wieder gemacht?» Doris Leuthard riet mir einst: «Gut zuhören, und dann das Richtige tun.»

Welches war der schönste, welches der schwierigste Moment?
Am schwierigsten sind tödliche Unfälle, die mir sehr unter die Haut gingen. Sonst war der schwierigste Moment in meinem zweiten Jahr in Bellinzona, als ich in einen fürchterlichen Strudel lief und es zu einem Streik kam. Die schönsten Momente waren jeweils, wenn ich spürte, wie die SBB-Mitarbeitenden auf allen Ebenen zusammenhalten. Ich wurde am Anfang wegen meines Führungsstils kritisiert. Das hat wehgetan. Ich habe eine riesige Freude, dass wir im oberen Kader ein tolles Team wurden. Das hat mich manchmal richtig gerührt.

Welche Pläne haben Sie noch im Leben?
Auf der einen Seite möchte ich die Welt entdecken. Ich bin nicht mehr ganz jung, aber noch frisch. Dann bin ich bereit, Start-ups zu unterstützen, strategische Projekte zu begleiten, eventuell das eine oder andere Verwaltungsratsmandat wahrzunehmen. Aber nur, wenn es spannend ist. Sicher werde ich auch etwas Gemeinnütziges machen.

Was ist Ihr Wunsch für die SBB?
Natürlich keine Unfälle und eine gute Pünktlichkeit! Dass sie ein wichtiger Teil der Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes bleibt. Und dass dafür alle Mitarbeitenden die ihnen gebührende Anerkennung bekommen. Sie sind auch in diesen Zeiten unverzichtbar und leisten Grossartiges.

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